Zwei Menschen sitzt auf dem Sofa, die eine umschließt mit beiden Händen die Hände der anderen Person
Nicht immer fühlen sich andere damit wohl, wenn man über die eigene Trauer sprechen möchte. Aber hin und wieder darf man sich deren Zeit einfach stehlen, sagt Berni Mayer.
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2019 starb Berni Mayers Tochter Olivia. Damals war sie vier Jahre alt, sie hatte einen Gehirntumor, bereits seit drei Jahren. Berni Mayer wusste, dass es so kommen würde. Aber als es dann wirklich so weit war, schlich sich eine Traurigkeit in sein Leben, die er so noch nicht gekannt hatte. Eine, die sich nicht nur in Tränen, sondern auch in Erschöpfung, Verzweiflung und Depression äußerte. Bis heute ist sie fester Bestandteil seines Alltags. Aber er hat Frieden mit ihr geschlossen, nach dem Motto: "Die Trauer darf ihr Ding machen, ich mach meins. Aber wir bleiben immer im Gespräch."

Sie kommt in Wellen, sagt er, und er versucht einfach, ein guter Surfer zu sein. In seinem kürzlich erschienenen gleichnamigen Buch gibt Mayer eine "Anleitung zum Traurigsein" – auch für das Umfeld. Denn was Trauernden gar nicht hilft ist der gutgemeinte Satz: "Melde dich jederzeit."

STANDARD: Gleich zu Beginn die wichtigste Frage: Wie geht es Ihnen heute?

Mayer: An sich ganz okay. Der Herbst ist immer eine etwas kritische Phase. Meine Tochter hat Mitte November Geburtstag, das Wetter schlägt um, und in der Arbeit kommt eine stressige Zeit. Es kommen gerade mehrere Dinge zusammen, die das Leben ein bisschen mühsamer machen.

Ich schreibe ja davon, dass Trauer in Wellen kommt, und jetzt ist eben gerade eine höhere Welle da. Das Gute dabei ist, dass die Wellen nicht völlig unvorhersehbar, sondern zyklisch sind. Und je mehr man im Trauertraining ist, desto besser kann man sich auf solche Phasen vorbereiten.

STANDARD: Wie denn?

Mayer: Ich versuche dann, besonders gut darauf zu achten, mich gesund zu ernähren, Sport zu treiben und intensiver zu meditieren. Ich habe mir so eine Art Notfallprogramm zusammengestellt.

Auch die soziale Interaktion ist wichtig, das Kontakthalten mit Freundinnen und Partnern oder dem eigenen Sohn. Ich denke, es zahlt sich aus, wenn man trotz der Trauer noch Mühe aufbringt, für andere da zu sein. So bleibt man in einem gewissen sozialen Rhythmus. Das ist in einer Extremsituation natürlich wahnsinnig schwierig. Genau deshalb ist hier auch das Umfeld gefragt, das beschreibe ich in dem Buch. Denn da gibt es viele nicht so optimale Verhaltensmuster auf beiden Seiten.

STANDARD: Was meinen Sie damit? Man weiß ja tatsächlich nicht so genau, wie man auf Trauernde zugehen soll. Dann ist es womöglich leichter, sich zurückzuziehen.

Mayer: Genau. Und vor allem wenn man ein Kind verloren hat, wissen die Leute gar nicht mehr, wie sie reagieren sollen. Oft lassen sie einen dann mit einem "Meld dich, wenn du was brauchst" zurück. Das ist aber wahnsinnig problematisch, weil wenn es einem wirklich schlecht geht, kann man vielleicht nicht einmal mehr die Kraft aufbringen, sich proaktiv zu melden. Und selbst wenn, dann bin ich in dem Moment schon so sensitiv, dass es mich umso härter trifft, wenn die Person dann in dem Moment nicht direkt Zeit für mich hat oder nicht sofort zurückschreibt. Das Risiko, sich zu melden, ist Trauernden dann oft zu hoch. Ich habe den Eindruck, dass mit dieser Phrase viele das Gefühl haben, ihre Schuldigkeit getan zu haben. Aber es hilft viel mehr, hin und wieder einmal nachzufragen, wie es der Person geht, was sie gerade macht. Das erleichtert das Ganze extrem.

Ansonsten gibt es für mich keine Regeln bei dem Thema. Ich muss auch nicht jedes Mal, wenn mir jemand über seine oder ihre Probleme erzählt, die Präambel hören "Ja ja, ich weiß, du hast viel Schlimmeres erlebt". Ich weiß schon, dass auch Alltagsprobleme sehr schlimm sein können, und Trauer ist keine Challenge. Wir müssen unsere Trauer nicht miteinander vergleichen.

Porträt Berni Mayer
Berni Mayer hat sich nach dem Tod seiner Tochter mit der Trauer versöhnt.
Birte Filmer

STANDARD: Was ist Trauer denn eigentlich?

Mayer: Damals, als schon klar war, dass unsere Tochter sterben wird, habe ich mich auch gefragt, was ich da eigentlich gerade fühle. Was ist es? Lässt es sich mit einem Gefühl, das ich schon kenne, vergleichen? Ich bin zu zwei Erkenntnissen gekommen. Zum einen ist es eben nicht mit irgendetwas vergleichbar, schon gar nicht, als es dann tatsächlich zum Tod kam. Aber zum anderen kommt es bekannten Gefühlen wie Liebeskummer oder Heimweh schon nahe.

Es ist ein schwerer, stechender Schmerz. Etwas, das unheimlich bedrückt. Man steht in der Früh auf und weiß sofort, da ist irgendetwas und ich kann den Tag nicht sorgenfrei absolvieren. Da ist so eine Schwere, wie Liebeskummer hoch 14. Und es wandelt sich auch. Es hat sich von etwas physisch Stechendem zu etwas Lähmendem, Stumpfem gewandelt. Eigentlich fühlt man sich mit dem stechenden Schmerz fast wohler. Das Lähmende finde ich bedrohlicher, das fühlt sich an, als wäre man in einem Wattebausch gefangen und könne den Kopf nirgendwo rausstecken.

STANDARD: Gegen die Ohnmacht hilft reden, heißt es. Reden Sie viel über Ihre Tochter?

Mayer: Ich kann sehr offen darüber reden, auch mit ihrer Mutter. Also an mir läge es nicht. Aber ich stelle fest, dass oft für andere Leute nicht der richtige Zeitpunkt ist, über meine Tochter zu sprechen. Man kann nicht immer mit der Trauertür ins Haus fallen.

Manches Mal, etwa in extremen Trauersituationen, muss man vielleicht so egoistisch sein und sich die Zeit von andere stehlen, wenn es gerade nicht anders geht, aber manches Mal muss man eben auch auf andere Rücksicht nehmen. Zum Glück gibt es ja auch therapeutische oder karitative Anlaufstellen, wo man dann einfach drauflosreden kann.

STANDARD: Sie schreiben, dass Sie sich durch den Trauerprozess verändert haben. Inwiefern sind Sie heute ein anderer?

Mayer: Ich nehme mehr wahr, was um mich herum passiert. Das kann sein, dass ich besser wahrnehme, wie andere gerade so drauf sind. Oder auch etwas ganz Banales, dass ich beim Spazierengehen die Blätter an den Bäumen bewusster sehe. Mein Sohn hat mich beispielsweise darauf gebracht, dass ich im Herbst einen Pumpkin Spice Latte probieren könnte, und ich habe gemerkt, dass mir das total schmeckt. Ich hab mich jetzt den ganzen Herbst lang gefreut, ein-, zweimal pro Woche diesen süßlichen Kaffee zu trinken. Selbst wenn mir das nächstes Jahr nicht mehr schmeckt, dann hatte ich jetzt ein paar Wochen, wo mir das wirklich Freude bereitet hat.

Kurzum, ich lebe einfach intensiver. Das erzählen ja viele Leute, die mit dem Tod in Berührung waren. Und das ist manchmal super und manchmal auch anstrengend, da würde man gerne ein bisschen hirnloser durch die Gegend laufen.

STANDARD: Hinterbliebene berichten oft, dass die gesellschaftliche Schonzeit nach einem Verlust recht schnell wieder vorbei ist. Wie haben Sie das empfunden?

Mayer: Das ist sie auf jeden Fall. Man hat ein paar Monate, maximal ein Jahr Schonfrist, und dann geht es normal weiter, vor allem wenn man Anzeichen zeigt, dass man eh gut funktioniert. Ich vergleiche Trauer deshalb auch gerne mit einer hochfunktionalen Depression. Es geht einem nicht gut, aber man geht trotzdem zur Arbeit, zum Sportverein, und die Leute sehen das und haben einen guten Eindruck von einem. Dann fragt man sich halt: Trage ich selber da etwas dazu bei, dass meine Schonfrist jetzt vorbei ist, weil ich einfach zu funktional wirke, sollte ich desolater wirken? Auf der anderen Seite ist es vielleicht auch gut, nicht isoliert zu wirken und diese Schonfrist nicht zu haben, weil ich dann das Gefühl habe, weiterhin Teil der Gesellschaft zu sein.

Das ist sehr individuell. Manche Leute wollen, dass ihre Trauer anerkannt wird, und sie wollen sich auch auf lange Zeit ein Stück darüber definieren. Andere wollen das eher nicht. Es gibt dabei keine Regeln, das muss jeder und jede für sich selbst wissen, inwiefern und wie lange er oder sie in der Rolle des beziehungsweise der Trauernden wahrgenommen werden will oder nicht. Die Gesellschaft ist jedenfalls sehr ungnädig mit Trauernden. Sobald der Eindruck entsteht, dass es der Person besser geht, wird auch nicht mehr täglich oder wöchentlich angerufen.

Cover Anleitung zum Traurigsein
In der "Anleitung zum Traurigsein" teilt Mayer auf ungeschönte und einfühlsame Art seine eigenen Erfahrungen. Dumont-Verlag, 22,– Euro / 224 Seiten.
Dumont Verlag

STANDARD: Wenn etwas schmerzt, egal ob körperlich oder seelisch, stellen sich viele die Frage: Wie lange tut das jetzt weh? Kann man diese Frage auch bei Trauer stellen? Hat sie ein Ablaufdatum?

Mayer: Ganz weggehen tut sie nie, deshalb habe ich mich mit ihr versöhnt. Aber Trauer verändert sich. Ich erinnere mich noch, als ich in einer Trauergruppe war mit einem Mann, der vor 30 Jahren sein Kind verloren hat und einen sehr traurigen Eindruck gemacht hat. Ich habe mir damals gedacht: Oh je, oh je, geht's mir in 30 Jahren auch noch so schlecht? Jetzt, ein paar Jahre später, kann ich das besser verstehen. Manche Aspekte der Trauer spürt man erst nach einiger Zeit mit voller Wucht.

STANDARD: Welche?

Mayer: Es sind jetzt über sieben Jahre vergangen, seit meine Tochter krank wurde und klar war, dass sie sterben wird. Es lief also jetzt eine lange Zeit richtig schlecht. Und jetzt bin fast 50 und habe eine Menge wertvolle Zeit meines Lebens damit verbracht, mich sehr hart durchzubeißen. Das ist eine deprimierende Erkenntnis und ein neuer Aspekt, den Trauer mit sich bringt.

STANDARD: Der Trauerprozess ist individuell, jeder und jede trauert anders. Gibt es dennoch etwas, das alle eint?

Mayer: Die Freude am Erinnern. Die Menschen sind zwar traurig, aber lachen sofort, wenn sie von ihren verstorbenen Kindern, Eltern oder Freundinnen und Freunden erzählt. Dieses Erinnern kann für Trauernde fast etwas Euphorisches sein. Das ist heute einfacher, wenn es Videos von der verstorbenen Person gibt.

Ich bin mir durch das Erinnern der großen Gleichzeitigkeit der Dinge bewusst geworden und habe schnell gelernt, dass man etwas nicht abwerten muss, nur weil es vergangen ist. Viele setzen das sofort mit einem Defizit gleich und sehen nur noch, dass es jetzt nicht mehr da ist. Aber man kann sich auch einfach nur freudig erinnern. Diese Erinnerungen wertzuschätzen lernen Leute, die trauern, wahnsinnig schnell. Und sie wissen, dass die Verstorbenen wollen würden, dass man weitermacht.

STANDARD: Trauer ist auch ein Riesenthema im Bereich künstliche Intelligenz (KI). Tech-Firmen wollen Verstorbene durch KI wiederauferstehen lassen, man kann mit ihnen chatten oder telefonieren. Ist das die Zukunft des Trauerns?

Mayer: Es gibt eine große Diskussion in der Trauerliteratur zu der Frage, ob man loslassen soll oder nicht. Lange hieß es, das Loslassen ist ganz wichtig. Neuere Forschung sagt eher das Gegenteil, Erinnerungskultur ist wichtiger als Loslassen. Wenn die KI eine freudige Erinnerungskultur unterstützt, ist das hilfreich, und ich würde mich da überhaupt nicht gegen technische Neuerung verwehren. Ich persönlich bräuchte keine KI-Gespräche mit meiner verstorbenen Tochter. Ich erinnere mich sehr lebhaft an sie und kommuniziere auch im Geiste mit ihr. Aber wer weiß, wie ich da in fünf Jahren darüber denke.

STANDARD: Gibt es etwas, das Sie Menschen, die vielleicht jetzt gerade trauern, mitgeben möchten?

Mayer: Bleiben Sie ruhig. Ich habe oft das Gefühl gehabt, irgendetwas tun zu müssen. Was muss ich als Nächstes organisieren? Wie muss ich jetzt klarkommen? Muss ich jemanden anrufen? Wie gehe ich damit um? Und es hat sich immer ausgezahlt, einfach einmal durchzuatmen, die Situation zu beobachten und Entscheidungen erst im zweiten Schritt zu treffen. (Magdalena Pötsch, 26.11.2023)