Klare Formen und viel Glas – von außen vermittelt das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag moderne Transparenz. Hinter der Sperre dann fällt der Blick auf das architektonische Zitat eines Burggrabens: Zwischen dem niedrigen Eingangsgebäude und den Haupthäusern mit den Büros und Versammlungsräumen, Verhandlungssälen und dem Gefangenenhaus erstreckt sich ein umfangreicher rechteckiger, seichter Teich.

Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag, ICC/IStGH
Klare Formen, viel Glas: Die Architektur des Internationalen Strafgerichtshofes im niederländischen Den Haag vermittelt optisch Transparenz.
Fabian Sommavilla

Drinnen im Eingangsbereich hängen die Fahnen der weltweit mehr als 120 Staaten an der Wand, die die rechtliche Grundlage des Gerichts, das Römische Statut, ratifiziert haben. Auch jene Österreichs, dessen Justizministerin Alma Zadić (Grüne) samt Delegation zu Besuch war.

Zadić traf Ankläger Khan

Zadić verbindet mit der Internationalen Strafgerichtsbarkeit viel. Ab 2007 arbeitete sie als Praktikantin beim Internationalen Strafgerichtshof für Jugoslawien (IStGHJ). Verbrechen wie Völkermord dürften nicht straflos bleiben, sagt sie: "Die Verantwortlichen dürfen nicht davonkommen."

Nun, bei ihrem IStGH-Besuch, werden sie und ihre Justizfachleute in einen Konferenzsaal geleitet. Zadić spricht dort mit dem IStGH-Präsidenten Piotr Hofmański, dem Kanzler des Gerichtshofs, Osvaldo Zavala Giler, und IStGH-Ankläger Karim A. A. Khan. Die Medienarbeitenden müssen derweil draußen warten. Auch Informationen gibt es für sie nicht.

Österreichs Justizministerin Alma Zadić
Alma Zadić konferierte mit den Strafgerichtshof-Spitzen.
IMAGO/SEPA.Media

IStGH- Leitung auf russischer Fahndungsliste

Tatsächlich steht das Gericht derzeit unter starkem Druck. Im Spätsommer wurden Khan, Hofmański und zwei weitere IStGH-Richter auf die russische Fahndungsliste gesetzt: wohl eine Retourkutsche für die Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa wegen der Entführung ukrainischer Kinder im Zuge des Angriffskriegs Russlands gegen den Nachbarstaat – ein Verbrechen, das als Zeichen von Völkermord gilt.

Seit September laufen außerdem massive Cyberattacken gegen das Gericht. Ob Russland dahintersteckt, ist bis dato unklar - zumindest offiziell. Als Tribunal, das sich in seiner Arbeit auf Aussagen von Zeugen und Verbrechensopfern stützt, ist der IStGH bei derlei Angriffen extrem vulnerabel. Die Identität Betroffener muss unbedingt geschützt werden.

Ermittlungen zu Palästina gestartet

Währenddessen rückt das Haager Tribunal zunehmend in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit. Am Freitag haben es fünf Staaten wegen der Lage in den Palästinensergebieten angerufen. Südafrika, Bangladesch, Bolivien, die Komoren und Dschibuti beantragten Ermittlungen, "um den Opfern dieser schweren Verbrechen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen". Der IStGH sieht sich zuständig für die von Israel besetzten Palästinensergebiete.

Schon Anfang November hatten Angehörige mehrerer israelischer Geiseln Strafanzeige erhoben. Sie fordern eine Verfolgung der Hamas wegen Völkermords sowie den Erlass von Haftbefehlen gegen deren Anführer. Zwar ist Israel kein IStGH-Mitglied, doch jeder und jede kann sich an das Tribunal wenden. Dieses entscheidet, ob ermittelt wird.

In früheren Jahren war der IStGH vor allem in afrikanischen Staaten aktiv, etwa zur Lage in Darfur oder in der Demokratischen Republik Kongo. Das war ihm als Zeichen von Irrelevanz vorgeworfen worden, hauptsächlich im globalen Norden.

100.000 Kriegsverbrechen

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine änderte sich das. Im März 2022, als erste Hinweise auf Massaker aufkamen, startete der IStGH Ermittlungen. Der Uno-Menschenrechtsrat, die OSZE und die EU-Agentur für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) schlossen sich an.

Der Output dieser Aktivitäten ist beachtlich. Laut dem Menschenrechtsexperten und ehemaligen Uno-Sonderberichterstatter über Folter Manfred Nowak wurden mehr als 100.000 Fälle von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bekannt. Konkrete Anklagen müssten nun folgen, sagt Nowak: "Der IStGH muss liefern." Das sei in Sachen Ukraine und Nahost vielleicht Zukunftsmusik, aber nicht unrealistisch. Immerhin sei auch der serbische Ex-Präsident Slobodan Milošević gefasst worden. "Es wird in Russland auch eine Zeit nach Putin geben", sagt Nowak. (Irene Brickner, 19.11.2023)

Die Reise nach Den Haag wurde teils vom Justizministerium bezahlt.