
Hoffnung für zigtausende Menschen, dann wieder Dementis oder Funkstille: Die Frage, ob im Nahen Osten eine Feuerpause und – damit verbunden – die Freilassung von Geiseln der radikalislamischen Terrororganisation Hamas vereinbart werden kann, beschäftigte am Wochenende nicht nur die Unterhändler bei den Gesprächen in der katarischen Hauptstadt Doha.
Katars Regierungschef Mohammed bin Abdulrahman Al Thani zufolge standen am Sonntagvormittag einem entsprechenden Abkommen jedenfalls nur noch "geringfügige" Hindernisse im Weg. Die noch offenen Fragen seien zudem eher "logistischer und praktischer" Natur, sagte Al Thani bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Doha.
Vermittlung durch USA
Der EU-Vertreter Borrell wird diese Einschätzung gerne vernommen haben. Allerdings waren es die USA, die neben Israel und der Hamas an den vorangegangenen zähen Verhandlungen beteiligt gewesen waren. Konkret war schließlich von einer mindestens fünftägigen Feuerpause die Rede. Das israelische Fernsehen veröffentlichte in der Nacht auf Sonntag sogar schon Details einer möglichen Vereinbarung: Demnach habe die Hamas die grundsätzliche Bereitschaft zur Freilassung von 87 Geiseln signalisiert, berichtete der Sender N12. Darunter seien 53 Frauen, Kinder und Jugendliche sowie 34 Ausländer.
Laut Angaben der Washington Post wiederum würde die Hamas alle 24 Stunden "zunächst 50 oder mehr Geiseln in kleineren Gruppen freilassen". In Kraft treten könnte die Vereinbarung demnach bereits in den nächsten Tagen – vorausgesetzt, es tauchen in letzter Minute keine Probleme auf.
In der Tat war der Deal zunächst noch nicht in trockenen Tüchern. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu erklärte bereits am Samstagabend auf einer Pressekonferenz, es gebe mit Blick auf die Geiseln unbegründete Gerüchte. "Ich möchte klarstellen: Bis jetzt gibt es noch keine Einigung." In dieselbe Kerbe schlug Adrienne Watson, Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses. Man arbeite jedoch hart daran, eine solche Einigung zu erzielen.
Die Vorsicht war am Wochenende wohl auch etlichen Detailfragen geschuldet. So sollte etwa die Einstellung der Kampfhandlungen dem Vernehmen nach auch ermöglichen, deutlich mehr humanitäre Hilfe als bisher von Ägypten in den Gazastreifen zu bringen, darunter auch Treibstoff. Während Letzterer für die Menschen im Gazastreifen enorm wichtig ist, um die Stromversorgung und damit den Betrieb von Wasserpumpen, medizinischen Einrichtungen und Telekommunikationsnetzen aufrechtzuerhalten, will Netanjahus Regierung verhindern, dass Treibstoff in die Hände der Hamas fällt, die ihn für weitere Angriffe gegen Israel nützen könnte. Laut Angaben des Senders N12 solle Israel zudem neben der Feuerpause im Gazastreifen auch der Freilassung von weiblichen palästinensischen Häftlingen sowie Minderjährigen aus den Gefängnissen zustimmen.
Auch wenn derlei Forderungen nicht nach dem Geschmack der Regierung sind: Der Druck auf Netanjahu, die Geiseln nach Hause zu holen, ist am Wochenende gestiegen. Zehntausende demonstrierten am Samstag vor seinem Amtssitz und forderten einen sofortigen Deal zur Freilassung der von der Hamas verschleppten Menschen. Es handelte sich um Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Protestmarsches, der bereits am Dienstag in der etwa 70 Kilometer entfernten Küstenmetropole Tel Aviv begonnen hatte.
Flucht in den Süden
Während unter Vermittlung der USA über kurzfristige Maßnahmen verhandelt wurde, die das Leben der Geiseln und der Zivilbevölkerung im Gazastreifen retten könnten, ging es in der Weltpolitik auch um die Frage, welche internationale Ordnung am Ende des aktuellen Krieges stehen könnte. US-Präsident Joe Biden sprach sich in einem Gastbeitrag für die Washington Post erneut für eine Zweistaatenlösung aus und für eine politische Wiedervereinigung des Gazastreifens und des Westjordanlands unter der Palästinensischen Autonomiebehörde. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, eine Zweistaatenlösung sei "der einzige Weg, um Frieden zu erreichen".
Indes rief Israels Militär am Sonntag die Menschen im Norden des Gazastreifens erneut zur Flucht in den Süden auf. Dorthin hat der Rettungsdienst Roter Halbmond laut eigenen Angaben auch 31 Frühgeborene aus dem umkämpften Shifa-Krankenhaus gebracht. Auch im Süden fordern Luftangriffe allerdings immer wieder Todesopfer. (Gerald Schubert, 19.11.2023)