Soldaten am Flussufer.
Am Dnjepr ist die ukrainische Armee zuletzt in die Offensive gegangen und bis an das russisch besetzte Ufer gelangt.
AP/Mstyslav Chernov

Der zweite volle Kriegswinter in der Ukraine kündigt sich mit düsteren Prognosen an. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Dass Russland auch heuer wieder Raketen- und Drohnenschläge gegen die kritische Infrastruktur des von zwanzig Monaten Krieg ausgezehrten Landes durchführen wird, wenn es dunkel und kalt wird, gilt als fix. Berichten zufolge hat die russische Armee in den vergangenen Monaten zu diesem Zweck etwa auf der Krim hunderte Marschflugkörper gehortet.

Zwar verfügt die Ukraine anders als im Vorjahr über eine vergleichsweise effektive Luftabwehr – dank der vom Westen gelieferten Systeme. Allein in der Nacht auf Sonntag wurden laut ukrainischen Angaben 15 von 20 Shahed-Drohnen abgefangen, die Russland in Richtung Kiew und anderer ukrainischer Städte geschickt hatte. Am Samstag fiel nach ähnlichen Angriffen gleichwohl in 400 Ortschaften der Strom aus. Freilich: Um die gut geschützten, teils unterirdischen russischen Raketendepots knacken zu können, bevor Schaden entsteht, dafür fehlen der Ukraine nach wie vor die geeigneten Mittel, etwa der Luft-Boden-Marschflugkörper Taurus, den Deutschland bisher nicht liefern will. Und bald schon sinken nach einem auch in der Ukraine ungewöhnlich warmen Herbst die Temperaturen im Kriegsgebiet unter null.

Stellungskrieg droht

Dort wiederum, wo die ukrainische Armee im Sommer eigentlich zur Befreiung der besetzten Gebiete ansetzen wollte, im Süden und im Osten des Landes etwa, droht nun genau das, was Kiews Militärstrategen – und ihre westlichen Waffenlieferanten – so fürchten: ein Stellungskrieg. Aktuell gelingt es der Armee aber punktuell noch, Bewegung in die Kämpfe zu bringen, etwa nahe Cherson am Fluss Dnjepr. Auch im Schwarzen Meer hat die Ukraine dank erfolgreicher Schläge mit Fernwaffen die russische Flotte zuletzt in die Defensive gedrängt.

Ein echter Durchbruch, der die entscheidende Wende und die erhoffte Befreiung der besetzten Gebiete einläuten würde, ist der vom Westen spät, aber doch hochgerüsteten Ukraine aber auch fast ein halbes Jahr nach Beginn ihrer Offensive nicht gelungen.

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Auch deshalb muss die Kiewer Führung in ihrer PR wieder einmal einen heiklen Drahtseilakt wagen: Einerseits sollen die Zweifler im Westen davon überzeugt werden, dass die so teuer hochgerüstete Ukraine nach wie vor imstande ist, ihre Ziele zu erreichen. Zugleich muss Kiew deutlich machen, wie überlebenswichtig gerade jetzt der Nachschub ist.

Dass mit dem Nahen Osten nun ein weiterer Kriegsschauplatz dazugekommen ist, hilft da nicht. Die Waffenlieferungen an sein Land seien seither zurückgegangen, erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche. Ohne Wiederaufstockung des in monatelangen Kämpfen verschlissenen Geräts kann die Ukraine nicht wie geplant im Frühling wieder in die Offensive gehen. Auf die F-16-Kampfjets wartet Kiew ohnehin bis heute.

Von einer vollständigen Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete, die sich Kiew eigentlich zum Ziel gesetzt hat, spricht dieser Tage auch darum niemand. Zu oft haben sich die russischen Linien, die Moskau ausgebaut hat, während die Ukraine auf westliche Hilfe wartete, bisher als unüberwindbar erwiesen. Etwa im Süden, wo das Zwischenziel Tokmak auf dem Weg zum Asowschen Meer bis heute nicht erreicht ist.

"Winter wird sehr schwer"

Vor dem Winter hält deshalb offiziell Ernüchterung Einzug. Aber auch erste Bruchlinien treten zutage. "Ich sage Ihnen die Wahrheit: Dieser Winter wird für uns sehr schwer", sagte Andrij Jermak, der Chef der Kiewer Präsidentschaftskanzlei. Generalstabschef Walerij Saluschnyj hatte sich Anfang November im Economist noch unverblümter gegeben: "Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefgreifenden und schönen Durchbruch geben", rief er jenen im Westen zu, die sich ob der bisher geringen Geländegewinne von der Gegenoffensive enttäuscht zeigen.

Was es brauche, sei eine Art Wunderwaffe, die effizient die russischen Funkverbindungen zu kappen vermag, mit denen etwa Drohnenangriffe gesteuert werden. Dass Saluschnyj zudem von einem Patt wie im Ersten Weltkrieg sprach, rief Selenskyj auf den Plan, der seinen bis dahin unantastbaren Armeechef abkanzelte: "Wir haben kein Recht, die Hände sinken zu lassen."

Brückenkopf in besetztem Gebiet

Aller Ernüchterung zum Trotz: Fest steht, dass die ukrainische Armee an der 1200 Kilometer langen Front nach wie vor dagegenhält. Im Süden, am Fluss Dnjepr, geht sie zudem in die Offensive. Berichten zufolge baut sie bei Krynky gegenüber dem vor einem Jahr befreiten Cherson ihren Brückenkopf am östlichen Ufer aus. Etwa 500 Soldaten, schätzt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie im Gespräch mit dem STANDARD, sind dort in Booten übergesetzt. Bis zu acht Kilometer tief sollen sie vorgedrungen sein, meldete Kiew am Sonntag. "Die Ukraine hat Störsysteme eingesetzt, mit denen etwa Russlands gefürchtete First-Person-View-Drohnen unschädlich gemacht wurden", sagt Reisner.

Durch die vielen Aufklärungsdrohnen, die beide Seiten an der Front einsetzen, sei es schwer, den Gegner zu überraschen. Gelingt es der Ukraine, schweres Gerät an das Ostufer des Dnjepr zu verschiffen, kommt sie ihrem Ziel, die Besatzungszone zu teilen, aber ein Stück weit näher. Analyst Reisner: "Einerseits kann sie im Westen Erfolge vorweisen, andererseits bindet sie russische Kräfte."

Weiter östlich, rund um die ukrainische Bastion Awdijiwka, setzt Russland umgekehrt darauf, die ukrainischen Reserven zu binden. Mindestens eine ihrer wertvollen, mit westlichen Waffen gerüsteten Offensivbrigaden soll dort bereits im Einsatz sein. Dass Russlands Armee dabei hohe Verluste und kaum Geländegewinne verzeichnet, dürfte für die Moskauer Kriegsherren keine große Rolle spielen. Je länger der Krieg dauert, desto besser für sie. (Florian Niederndorfer, 20.11.2023)