
Wien – Eigentlich hat Ralf Rangnick ein schönes Leben. Der 65-Jährige muss sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob Joshua Kimmich und Ilkay Gündogan eine ideale Doppelsechs abgeben. Und ob die Offensivkraft Kai Havertz tatsächlich zu einer Art linker Außenverteidiger taugt, kann dem österreichischen Teamchef ziemlich wurscht sein. Er überlässt diese und vermutlich auch andere Sorgen Kollegen Julian Nagelsmann.
Die Deutschen sind Montagmittag in Wien gelandet, womit die letzte Voraussetzung für das freundschaftliche Länderspiel am Dienstag im ausverkauften Ernst-Happel-Stadion erfüllt war. Der Tag vor dem Ereignis unterliegt einem vorgegebenen Prozedere, Abschlusstrainings auf dem Hauptfeld, Pressekonferenzen im Medienzentrum.
Rund 100 deutsche Journalisten sind angemeldet, das 2:3 am vergangenen Samstag in Berlin gegen die Türkei dürfte das Interesse, nicht unbedingt die Begeisterung gesteigert haben. Der große Nachbar, immerhin vierfacher Weltmeister, verharrt, was den Fußball betrifft, in der Phase des Selbstzweifels und der Selbstfindung. Das Image von "Wunderwuzzi" Nagelsmann ist früher als befürchtet leicht angekratzt, die EM 2024 im eigenen Land naht, man würde gerne nicht nur Hausherr, sondern auch Favorit sein. Der 36-jährige Nagelsmann hatte jedenfalls gegen die Türkei "Emotionen" vermisst.
Entwicklung
Rangnick kann sich diesbezüglich nicht beschweren. "In den 18 Monaten, seit ich da bin, passten Einstellung, Mentalität und Emotion." Man habe eine gute EM-Qualifikation absolviert. Österreich wurde bester Gruppenzweiter, wird bei der Auslosung am 2. Dezember in Hamburg aus Topf zwei gezogen. "Wichtig ist, dass wir uns zu einer richtigen Turniermannschaft entwickeln und uns auf unser Ziel, weiterzukommen, einschwören."
Das Match gegen Deutschland ist freilich kein Turnier, sondern der Jahresabschluss, der im Idealfall würdig ausfallen soll. Rangnick erwartet ein "interessantes, brisantes, intensives, spannendes Spiel. Natürlich geht es auch ums Prestige. Ich glaube nicht, dass wir Favorit sind. Aber das spielt keine Rolle. Wir konzentrieren uns auf uns, sind auf alles vorbereitet. Wir müssen uns auf verschiedene Szenarien einstellen, zum Beispiel, ob sie mit Dreier- oder Viererkette agieren."
Er sprach seinen Landsleuten Mut zu. "Ich bin überzeugt, dass Deutschland die Chance und das Potenzial hat, eine gute EM zu spielen." Was Österreichs Teamchef nicht gesagt, möglicherweise aber gedacht hat: "Das Potenzial soll bis Mittwoch warten." Es ist wahrscheinlich, dass Rangnick mit genau jener Elf beginnt, die am vergangenen Donnerstag in Tallinn Estland 2:0 geschlagen hat. Das war die Einsergarnitur, alle Männer sind ausgeruht, motiviert, fokussiert und fit. Ein Dutzend kickt hauptberuflich in der deutschen Bundesliga. "Würde ich was ändern, würde ich es nicht verraten."
Weltklasse
Kapitän David Alaba sagte, man könne mit breiter Brust an die Aufgabe herangehen. "Wir sind grundsätzlich eine Mannschaft, die sich vor niemandem verstecken muss. Auf der anderen Seite kennen wir die Stärken der Deutschen. Sie haben Weltklasse-Einzelspieler und sind auch als Team gefährlich."

Der rhetorisch begabte Nagelsmann hinterließ im Beisein von Verteidiger Mats Hummels (Teamkollege von Marcel Sabitzer in Dortmund) pünktlich um 16.30 Uhr keinen gefährlichen, sondern einen souveränen Eindruck. "Wir dürfen uns von der öffentlichen Meinung nicht beirren lassen. Ich bin ein Freund von gutem Fußball. Wir möchten Wien mit einem guten Gefühl verlassen." Frei übersetzt: Gut gefühlt bedeutet für Nagelsmann ein Sieg. Die Österreicher seien enorm stark, die Spieler allesamt in Topligen engagiert. "Sie gehen aggressiv auf den zweiten Ball. Und sie haben einen guten Trainer. Ralf hatte immer Vertrauen in mich, er ist extrem ehrgeizig."
Die Bilanz spricht klarerweise für Deutschland. 40 Spiele, 25 Siege, sechs Remis, neun Niederlagen (inklusive Córdoba). Vor Anpfiff wird der ehemalige ÖFB-Kapitän Julian Baumgartlinger verabschiedet. Der 35-jährige Mittelfeldmotor bestritt 84 Länderspiele (ein Tor), musste seine Karriere aus Verletzungsgründen beenden. Der Applaus soll bis zum Abpfiff und darüber hinaus anhalten. Dann hätte Ralf Rangnick ein sehr schönes Leben. Und Julian Nagelsmann ein kompliziertes. (Christian Hackl, 20.11.2023)
Technische Daten und mögliche Aufstellungen:
Fußballtestspiel: Österreich – Deutschland (Wien, Ernst-Happel-Stadion, Dienstag, 20.45 Uhr / live ORF 1, SR Vincic/SLO)
Österreich: A. Schlager (Red Bull Salzburg/13 Länderspiele) - Posch (Bologna/27/1 Tor), Lienhart (Freiburg/18/1), Alaba (Real Madrid/104/15), Wöber (Mönchengladbach/20/0) - Baumgartner (Leipzig/33/10), Seiwald (Leipzig/19/0), Laimer (Bayern München/31/4), X. Schlager (Leipzig/40/3), Sabitzer (Dortmund/76/16) - Gregoritsch (Freiburg/50/12)
Ersatz: Lawal (LASK/0), Pentz (Bröndby IF/4) - Mwene (Mainz/8/0), Danso (Lens/15/0), Grillitsch (Hoffenheim/40/1), Kainz (Köln/27/1), Sarkaria (Sturm Graz/1/0), Schmid (Werder Bremen/6/0), Seidl (Rapid/2/0), Entrup (Hartberg/0), Kalajdzic (Wolverhampton/18/4), Arnautovic (Inter Mailand/111/36)
Es fehlen: Wimmer (Sprunggelenksverletzung), Baidoo (Muskelprobleme)
Deutschland: Trapp (Eintracht Frankfurt/8) - Henrichs (Leipzig/12/0), Hummels (Dortmund/77/5), Rüdiger (Real Madrid/65/3), Raum (Leipzig/19/0) - Goretzka (Bayern München/56/14), Gündogan (FC Barcelona/72/18) - Sané (Bayern München/58/13), Havertz (Arsenal/41/14), Wirtz (Bayer Leverkusen/13/0) - Füllkrug (Dortmund/12/10)
Ersatz: Baumann (Hoffenheim/0), Blaswich (Leipzig/0) - Tah (Bayer Leverkusen/20/0), Süle (Dortmund/49/1), Kimmich (Bayern München/81/6), Brandt (Borussia Dortmund/46/3), Andrich (Leverkusen/0), Groß (Brighton/4/0), Hofmann (Leverkusen/23/4), Prömel (Hoffenheim/0), Duksch (Werder Bremen/1/0), Gnabry (Bayern München/44/22), Müller (Bayern München/125/45)
Es fehlen: Musiala, Ter Stegen (beide verletzt)