Ganz verwehren würde sich Pieter Omtzigt einem Umzug ins "Torentje", wie der Amtssitz des niederländischen Ministerpräsidenten genannt wird, dann doch nicht. Am Sonntag erklärte der neue Stern am Haager Politikhimmel, dass er doch als Regierungschef zur Verfügung stünde, falls seine erst im August gegründete Protestpartei Nieuw Sociaal Contract (Neuer Gesellschaftsvertrag, NSC) auf dem ersten Platz landet, wie es manche Umfragen für möglich halten. Ursprünglich hatte der 49-Jährige einstige Christdemokrat mit dem "Kümmerer"-Image seiner Partei lieber als Fraktionschef ins Parlament wollen, anstatt den Platz an der Sonne anzustreben.

Wahlplakate in der Niederlanden.
Viele Parteien stehen heuer auf dem Wahlzettel.
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Dass man zwischen Maastricht und Groningen überhaupt darüber diskutiert, ob und unter welchen Umständen ein Außenseiter wie Omtzigt der nächste Ministerpräsident der Niederlande werden könnte, ist für sich genommen schon eine satte Überraschung. Farblos, aber unbequem, "eine Art Antiheld", nennen niederländische Kommentatoren den gelernten Ökonomen aus der Provinzstadt Enschede an der deutschen Grenze. Fast zwanzig Jahre lang war Omtzigt Hinterbänkler in den Reihen der Christdemokraten (CDA), 2021 verließ er die Fraktion im Streit und saß fortan, bis zur Gründung des NSC, als "wilder Abgeordneter" in der Zweiten Kammer, dem Unterhaus des niederländischen Parlaments.

"Heiliger Pieter"

Seine Stunde schlug 2021, ausgerechnet in einer der tiefsten Krisen der vergangenen Jahre in den Niederlanden. Viele seiner Landsleute rechnen es Omtzigt hoch an, dass er sich im Parlament so hartnäckig um die Aufklärung der sogenannten Toeslagenaffaire bemüht hat. Der Skandal, der die damalige Regierung Rutte III zu Fall brachte, ließ mehr als 25.000 Eltern wegen vermeintlichen Betrugs in den Antragsformularen für Kindergeld zum Teil zehntausende Euro zurückzahlen. Viele trieb dies in den Ruin, einige mussten sogar ihre Kinder in staatliche Obhut geben.

Nun will der Mann, den manche gar "heiliger Pieter" nennen, die politische Landschaft, aber auch die Verwaltung des Landes gehörig umkrempeln – und das althergebrachte Links-rechts-Schema sprengen. Fest steht, dass die Niederlande nach 13 Jahren mit Mark Rutte als Regierungschef nun in eine neue Ära gehen.

Pieter Omtzigt gilt als "Kümmerer", der sich mehr um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger sorgt als um politische Verortungen.
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Eigentlich war in der zersplitterten Parteienlandschaft des Königreichs – 17 Parteien sitzen derzeit in der Zweiten Kammer des Parlaments, keine davon kommt in Umfragen auf mehr als zwanzig Prozent – alles auf ein Duell zwischen der bisher regierenden VVD von Spitzenkandidatin Dilan Yesilgöz und Frans Timmermans ausgerichtet, Letzterer ist als EU-Klimakommissar zurückgetreten, um das Wahlbündnis aus Grünen und Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung zu führen.

Timmermans neugeschmiedetes Parteienbündnis will etwa den Mindestlohn auf 16 Euro pro Stunde erhöhen und die grassierende Wohnungsnot lindern, die neben Einwanderung und Klimaschutz eines der drei Hauptthemen im eben abgelaufenen Wahlkampf war. Der 62-jährige Spitzenkandidat will zudem den Treibhausgasausstoß bis 2030 um 65 Prozent reduzieren.

Der links-grüne Spitzenkandidat Timmermans (li.) und Rechtspopulist Wilders (re.).
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Rechtspopulist Wilders will mitregieren

Zuletzt ist in Umfragen aber auch noch ein alter Bekannter bis nach oben geklettert: Geert Wilders, dessen rechtspopulistische und islamfeindliche Freiheitspartei ebenfalls im Rennen um den ersten Platz mitmischt. Seiner Partei werden satte Zugewinne prognostiziert.

Die 46-jährige Yesilgöz, in Ankara geborene Tochter kurdisch-alevitischer Einwanderer und als Justizministerin unter dem im Sommer wegen Differenzen in der Asylpolitik zurückgetretenen Langzeitpremier Rutte Verfechterin eines harten Migrationskurses, wird weit eher zugetraut, gegebenenfalls mit dem NSC in Koalitionsverhandlungen einzutreten, als Timmermans, dessen Bündnis sich etwa mit der von Omtzigt in Aussicht gestellten Obergrenze von 50.000 Neuzuwanderern pro Jahr schwertun dürfte.

Dilan Yesilgöz, Spitzenkandidatin des VVD.
Dilan Yesilgöz will erste Ministerpräsidentin der Niederlande werden.
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Notfalls, so Yesilgöz, könnte der VVD aber auch mit Wilders' Freiheitspartei eine Regierung bilden, die seit ihrer Gründung 2006 noch nie Ministerposten bekleiden durfte. Wilders selbst hat seine Rhetorik zuletzt aus taktischen Gründen ein wenig abgemildert. "Der Islam wird nie aus unserer DNA verschwinden, aber die Priorität liegt jetzt eindeutig bei anderen Angelegenheiten, wenn es um die kommende Regierungsperiode geht", warb der 60-jährige Wilders für einen Platz in der künftigen Regierung.

Dass Yesilgöz, die von der Presse gelegentlich despektierlich "Pitbull auf Highheels" genannt wird, nun öffentlich mit ihm und seiner Partei kokettiert, dürfte viel zu seinem Höhenflug in den Umfragen beigetragen haben. 70 Prozent der Befragten gaben freilich an, sich erst am Wahltag zu entscheiden.

Ex-EU-Kommissar Timmermans, dessen Bündnis in Umfragen unter den Erwartungen geblieben war, warnte im Wahlkampffinale noch einmal vehement vor einem Rechtsruck in den Niederlanden. "Ich möchte am Donnerstag nicht in einem Land aufwachen, in dem Wilders der Vorsitzende der größten Partei ist." (Florian Niederndorfer, 22.11.2023)