Kaum ein Land auf der Welt kommt so leicht und so billig an Kredite wie Deutschland. Finanzminister Christian Lindner (FDP) könnte viele Milliarden bereitstellen, um neue Schulen und öffentliche Schwimmbäder bauen zu lassen oder um die notorisch unpünktliche Bahn aufzupäppeln. Wirtschaftlich hindert ihn nichts daran, es zu tun. In der Praxis sind ihm die Hände gebunden. Denn Deutschland verfügt über etwas, wovon in Österreich viele träumen: eine Schuldenbremse in der Verfassung.

Das deutsche Höchstgericht hat jene Tricks, mit dem die Regeln bisher umgangen wurden, für illegal erklärt, weshalb der Staat sparen muss, auch wenn offen ist, wie sehr.

Deutsche Regel gegen Versuchung

Womit wir im Kern der Debatte über Schuldenbremsen wären: Sind sie Teufelszeug, wie ihre Kritiker sagen, weil sie Investitionen verhindern und die Arbeit von Parlamenten erschweren? Oder im Gegenteil notwendig, um Regierungen zu einer verantwortlichen Budgetpolitik zu zwingen? Darüber tobt seit Jahren ein Streit. Aber wie funktionieren Schuldenbremsen, warum sind sie umstritten?

Die Bremse in Deutschland ist seit 2009 im Grundgesetz verankert, also mit Zweidrittelmehrheit fixiert. Die CDU/CSU machte die Bremse zur Bedingung für ihre Zustimmung zu einem Konjunkturpaket. Festgelegt ist, dass die Nettoneuverschuldung der Bundesrepublik begrenzt sein muss, und zwar auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung. Darüber hinaus sind keine Ausgaben zulässig, wobei es fast wie immer bei Schuldenbremsen noch Ausnahmen gibt. Eine davon lautet: Läuft es in der Wirtschaft gerade schlecht, darf etwas mehr Geld ausgegeben werden. Läuft es gut, muss dagegen mehr gespart werden.

Diese Flexibilität, neben Ausnahmeregeln für den Krisenfall, ist das, was die Schuldenbremse aus Sicht ihrer Verfechter interessant macht. Der Ökonom Lars Feld, der den deutschen Finanzminister berät, argumentiert in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" so: Politische Entscheidungsträger sind durch Wahlen dazu verleitet, budgetäre Konsolidierung aufzuschieben. Regierungen geben lieber mehr Geld aus, um wiedergewählt zu werden. Eine Schuldenbremse begrenze dieses Verhalten, lasse aber genug Spielraum, weil gewisse Elemente für die Flexibilität eingebaut seien.

Wie sehr dürfen die Schulden steigen? Eine Schuldengrenze zieht ein Limit ein.
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Was die wenigsten wissen, ist, dass es auch in Österreich seit 2012 eine Schuldenbremse gibt, in einfachem Gesetz. Die heimische Schuldengrenze ist aktuell "totes Recht", wie Wifo-Ökonom Hans Pitlik sagt. Seit Beginn der Pandemie sind die Regeln ausgesetzt – bis Ende 2023. Heute, Donnerstag, wird der Nationalrat auch für 2024 beschließen, dass die Regeln außer Kraft sind. Außerdem kann das Parlament, sollte die Bremse wieder greifen, mit einfachem Beschluss Abweichungen legitimieren. Die Schuldenbremse bindet dabei in Österreich nicht nur den Bund, sondern auch die Länder.

In Österreich nur ein Bremserl

ÖVP, FPÖ und Neos haben 2019 versucht, eine Bremse im Verfassungsrang zu etablieren, scheiterten damit im Bundesrat an SPÖ und Grünen. Die Neos sind am Thema noch dran, eine Schuldenbremse "sorge gerade in guten Zeiten dafür, Ausgaben abzubremsen und damit Spielräume für die Zukunft zu schaffen", sagt Neos-Lab-Chef Lukas Sustala.

Tatsächlich steht der deutschen Regierung frei, eigene Prioritäten zu setzen und bei gewissen Ausgaben zu sparen, dafür zum Beispiel beim Klimaschutz Mittel freizumachen. Sie kann natürlich auch jederzeit Steuern erhöhen, auch das geht mit einfachem Gesetz.

Österreich solle "heilfroh sein", keine Bremse in Verfassungsrang zu haben, sagt dagegen Ökonom Philipp Heimberger vom Wiener Institut Wiiw. Eine numerische Begrenzung der Schulden sei ökonomisch nicht zu argumentieren. Eine Schuldenbremse erschwere das Regieren, wie man aktuell in Deutschland sehe. Und: Heimberger sagt, dass die Bremse sehr wohl Investitionen erschwere. Dafür lassen sich Belege anführen. So hat eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vor einigen Jahren aufgezeigt, dass in Deutschland Kommunen zu wenig in Infrastruktur investieren, weil ihre Geldmittel anderweitig gebunden sind. In Deutschland müssen Kommunen einen Teil der Sozialhilfe finanzieren. Weil der Staat durch die Schuldenbremse gebunden sei, könne er nicht als Investor einspringen, so das Fazit im Paper. Viele Regionen seien deshalb abgehängt.

Die zweite Kritik am Konzept lautet folgendermaßen: Die Bevölkerung kann ohnehin entscheiden, welche Budgetpolitik sie will, und zwar über Wahlen. Welchen Sinn mache es da, den Spielraum künftiger Regierungen durch eine Verfassungsregelung zu behindern.

Schweiz votiert für strikte Regel

Jedoch gibt es auch Länder, in denen die Bremse geräuschlos funktioniert. In der Schweiz ist das Instrument seit 2003 in der Verfassung verankert. Wie der Schweizer Ökonom Martin Mosler ausführt, ist die eidgenössische Regel strenger als jene in Deutschland, weil sie gar keine Defizite erlaubt. Wenn die Regierung doch Defizite erwirtschaftet, ist sie in den Folgejahren dazu verpflichtet, diese wieder auszugleichen. Im Falle von höheren Ausgaben, weil die Wirtschaft schlecht läuft, bleiben ihr drei Jahre dafür Zeit, so Mosler vom Schweizer Institut IWP. Bei außergewöhnlich hohen Ausgaben ist die Zeitspanne länger, was auch nach der Pandemie zum Tragen kommt. Die Schweiz ist gemessen an der Wirtschaftsleistung geringer verschuldet als Österreich und Deutschland, zu einer Form der Regierungskrise wie aktuell in Deutschland ist es mit dem Instrument noch nicht gekommen. Warum die Bremse den Politikbetrieb der Schweiz kaum störte? Mosler: Weil die Regel per Volksabstimmung von 70 Prozent der Bevölkerung angenommen worden sei, sei die Akzeptanz der Schuldenbremse daher groß.

Staatsschulden in Österreich, Deutschland und der Schweiz
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In Deutschland selbst tobt aktuell eine Diskussion, wie mit der Situation nach dem Höchstgerichturteil umzugehen ist. Drei Varianten werden diskutiert: die Schuldenobergrenze beachten, sie abschaffen oder sie modifizieren. Das SPD-nahe Forschungsinstitut Dezernat Zukunft argumentiert, dass das Problem an der Schuldenbremse eigentlich bloß ihre technische Ausgestaltung sei, gar nicht das Verfassungsgesetz selbst. Die Regeln dazu, wie konjunkturelle Schwankungen zu berücksichtigen seien, wenn konkret ausgerechnet werden soll, wie hoch die Schulden sein dürfen, seien zu strikt. Wenn man hier die Regeln etwas aufweiche, lasse die Schuldenbremse in der praktischen Anwendung höhere Ausgaben zu. Und zwar ohne, dass das Grundgesetz geändert werden müsse. (András Szigetvari, 23.11.2023)