Eine Szene aus dem Film
Eine Szene aus dem Film "20 Days in Mariupol", der Anfang Dezember auch in Wien gezeigt wird.
(AP Photo/Mstyslav Chernov

Es sei kein Film für Popcorn, warnt die Ticketverkäuferin im Schowten-Kino in Kiew, während sie auf dem Monitor ihres Computers zeigt, welche Sitzplätze im Saal noch frei sind. "Ich war mit meinem Sohn im Film, und alle hatten Popcorn und Wasser dabei. Aber niemand hat auch nur das Wasser geöffnet", sagt die Frau und überreicht die Karten für jenen Film, den die Ukraine für eine Oscar-Nominierung eingereicht hat. "20 Days in Mariupol" dokumentiert die Belagerung der südukrainischen Hafenstadt, die wie kaum ein anderer Ort zum Sinnbild der Brutalität dieses Krieges wurde.

"Jemand hat mir einmal gesagt: Kriege beginnen nicht mit Explosionen", beginnt Regisseur Mstyslaw Tschernow im Film zu erzählen. „Sie beginnen mit Stille." Am 24. Februar 2022, als die russischen Panzer über die ukrainischen Grenzen rollten, berichteten Journalisten aus vielen Landesteilen über die Angriffe und Explosionen. Doch während die meisten Reporter die umkämpften Gebiete im Osten aus Sicherheitsgründen verließen, blieb ein Team ukrainischer Journalisten, die für die Nachrichtenagentur Associated Press arbeiten, in Mariupol zurück.

20 Days In Mariupol (trailer) | FRONTLINE
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Es gab viele Momente, in denen er dachte, dass er die Belagerung der Stadt nicht überleben würde, sagt Tschernow im Interview mit dem STANDARD am Telefon. Derzeit befindet sich der 37-jährige Kriegsberichterstatter, Filmemacher und Fotograf in den USA, um den Film zu promoten. „Aber eine meiner größten Ängste war, dass die Bilder nicht veröffentlicht werden. Ich war besorgt, dass das Material verlorengehen oder umsonst sein könnte." Gerade jetzt, sagt Tschernow, sei es wichtig, für den Film zu werben. Und das nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, wo im kommenden Jahr Wahlen anstehen. Nicht zuletzt seit dem Krieg im Nahen Osten scheint das, was in der Ukraine passiert, immer häufiger in den Hintergrund zu geraten.

Kein Happy End

Schonungslos zeigt der Film, was sich in Mariupol abspielte, während in der russischen Propaganda zur gleichen Zeit von einer Befreiung der Stadt die Rede ist. Es sind grausame Bilder von Massengräbern. Szenen aus dem Krankenhaus, wo eine Handvoll Ärzte versucht, einen endlosen Strom an Verwundeten zu versorgen. Die Schreie der Mütter, nachdem ihre Kinder gestorben sind, gehen durch Mark und Bein. Zur gleichen Zeit beginnen einige Bewohner die Geschäfte in der Stadt zu plündern. Krieg sei wie ein Röntgenbild, erzählt Tschernow im Film. Er lasse gute Menschen noch besser werden und die schlechten noch schlechter. Das beklemmende Gefühl der Isolation, gefangen und abgeschnitten zu sein, während sich die ganze Stadt innerhalb weniger Tage in ein Kriegsgebiet verwandelt, überträgt sich auch auf das Publikum im Kino in Kiew, manche schluchzen, andere sitzen angespannt da, wissend, dass es für die Stadt und viele der Bewohner kein Happy End geben wird. Seit vergangenem Jahr wird Mariupol von den Russen besetzt.

Mit Mühe und unter großer Gefahr gelang es den Reportern, die Fotos und Videos aus der umkämpften Stadt an die westlichen Medien zu senden. Die Bilder gingen um die Welt, darunter die Aufnahmen eines zerstörten Kinderkrankenhauses und hochschwangerer Frauen, die verletzt wurden. Nach 20 Tagen gelang dem Team die Flucht. Doch der Krieg selbst befand sich zu dem Zeitpunkt noch immer in der Anfangsphase. In Mariupol, wo einst mehr als 400.000 Menschen lebten, sind nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu 90 Prozent der mehrstöckigen Wohngebäude und 60 Prozent der Privathäuser beschädigt oder zerstört worden. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung sollen die Stadt verlassen haben. Die Zahl der Toten wird auf mindestens 25.000 geschätzt, doch die Dunkelziffer ist weit höher.

Ein Teil von ihm wünscht sich, dass der Film auch einem russischen Publikum gezeigt wird, sagt Tschernow, der selbst aus der Stadt Charkiw stammt, deren nördlichster Stadtteil sich nur um die 20 Kilometer von der russischen Grenze entfernt befindet. Eines der Ziele dieses Films sei, dass er so vielen Menschen wie möglich gezeigt wird, so Tschernow. "Menschen, die wirklich wissen wollen, was mit Mariupol passiert ist. Man kann niemanden zwingen, einen Film zu sehen, man kann niemanden zwingen, seine Meinung zu ändern, aber für diejenigen, die dazu bereit sind, möchte ich, dass er verfügbar ist."

Wut und Trauer

Mittlerweile wurde "20 Days in Mariupol" in vielen Städten außerhalb der Ukraine gezeigt und kommt am 3. Dezember auch nach Wien als einer von vier Filmen, die sich im Rahmen von This Human World der Ukraine widmen, erklärt Festivalleiterin Carla Lehner. Man wolle damit Einblicke in eine Situation gewähren, die sich die wenigsten Menschen vorstellen können. "Es sind einfach Personen, die ihren Alltag leben und dann von einem Schlag auf den anderen mit einem Krieg konfrontiert sind und tagtäglich um ihr Leben bangen. Und das ist auch diese Kraft des Filmes, dass er diese individuellen Geschichten auf die Leinwand bringt und eine Nähe zu den Protagonistinnen schafft", so Lehner.

Traurig und wütend fühle sie sich, erzählt eine junge Frau nach der Filmvorstellung in Kiew. Sie kämpft mit den Tränen. "Man hat uns in den Nachrichten einige dieser Videos gezeigt. Aber man versteht das Ausmaß nicht. Das Ausmaß der Zerstörung, das Ausmaß des Tötens, des Mordens von Menschen", sagt Anastasia, die sich selbst in Lwiw befand, als Russland die Ukraine überfiel. Seit Kriegsbeginn stehen Angriffe mit Drohnen und Raketen überall im Land auf der Tagesordnung. Auch deshalb hatten viele Menschen hierzulande noch immer keine Zeit, die Ereignisse ganz am Anfang zu reflektieren, sagt sie.

Die Reaktion in den USA, wo sich Regisseur Tschernow derzeit aufhält, sei ähnlich: Wut und Trauer. Doch gleichzeitig vermittle der Film auch ein Gefühl von Hoffnung. "Wie hart und tragisch die Ereignisse auch sein mögen, wie unvorstellbar das Leid der Einzelnen, die Menschen sind nicht allein", so Tschernow. "Es gibt Ärzte, es gibt Freiwillige, Nachbarn, Journalisten, Feuerwehrleute, die da sind. Das inspiriert viele." Nach den Vorstellungen, bei denen er selbst anwesend ist, würden viele auf ihn zukommen und fragen, was sie tun können. "In einer Zeit, in der viele Menschen in der Welt gleichgültig sind, von unschätzbarem Wert." (Daniela Prugger aus Kiew, 23.11.2023)