1991 ging einem Forschungsteam der University of Utah bei seinem "Fly's Eye"-Experiment ein Teilchen ins Netz, das es so eigentlich nicht geben dürfte. Der Sendbote aus dem All wurde der kosmischen Strahlung zugerechnet, war aber so energiereich wie kein anderes je beobachtetes derartiges Teilchen. Die Wissenschafter waren regelrecht schockiert und tauften die Messung "Oh-mein-Gott-Teilchens".

Kosmische Strahlen sind an sich schon sehr energiereiche geladene Partikel, vorwiegend Protonen, die aus galaktischen und extragalaktischen Quellen stammen, aber auch von der Sonne kommen können. Ihre Energie liegt etwa eine Million Mal höher als alles, was die leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger heute erreichen können. Woher genau sie kommen, ist in den einzelnen Fällen meistens nicht festzustellen, da sich ihr Zickzackflug durchs All kaum nachvollziehen lässt.

Kosmische Strahlung, Amaterasu, Telescope-Array-Experiment
Extrem energiereiche kosmische Strahlung wurde im Mai 2021 vom Telescope-Array-Experiment eingefangen. Was es mit dem "Amaterasu-Teilchen" auf sich hat, stellt die Astrophysiker vor ein Rätsel.
Illustr.: Osaka Metropolitan University/L-INSIGHT, Kyoto University/Ryuunosuke Takeshige

Ungebremst durch den Raum

Auf das "Oh-mein-Gott-Teilchen" trifft dies jedoch nicht im selben Ausmaß zu. Das Teilchen lag mit 3,2 x 1020 Elektronenvolt (eV) energetisch weit über den theoretisch für kosmische Strahlen möglichen Werten. Seine Energie reicht damit aus, um relativ ungebremst durch den intergalaktischen Raum zu reisen.

Insgesamt konnten Forschende in den letzten Jahren zwar mehr als 30 ultrahochenergetische kosmische Strahlen einfangen, aber keine davon kam auch nur in die Nähe des "Oh-mein-Gott-Teilchens". Das hat sich nun geändert: Am 27. Mai 2021 entdeckte das Telescope Array Experiment, ein international betriebenes Observatorium nahe Delta (Utah), die zweitenergiereichste kosmische Strahlung nach dem "Oh-mein-Gott-Teilchen".

Alarm auf 48 Quadratkilometern

Mit einer Energie von 2,4 x 1020 eV besaß das subatomare Partikelchen trotz seiner Winzigkeit eine enorme Durchschlagskraft. Wäre es massiv, würde die gemessene Energie der eines Ziegelsteins entsprechen, der einem aus Hüfthöhe auf den Zeh fällt. "Als ich die Daten zum ersten Mal sah, dachte ich, es muss sich hier um einen Irrtum handeln", erklärte Toshihiro Fujii von der Osaka Metropolitan University, Hauptautor der nun im Fachjournal "Science" erschienenen Studie.

Beim Teleskop-Array-Projekt verteilen sich auf 700 Quadratkilometern 507 Detektorstationen.
Illustr.: University of Utah

Das von der University of Utah und der Universität von Tokio geleitete 700 Quadratkilometer große Teleskop-Array besteht aus 507 Detektorstationen, die in einem quadratischen Raster angeordnet sind. Das außergewöhnliche Partikelereignis löste bei 23 Detektoren auf eine Messfläche von 48 Quadratkilometern in der nordwestlichen Region des Array Alarm aus. Bei einer solchen Messung wird die kosmische Strahlung jedoch nicht direkt registriert.

Teilchenkaskaden

Kosmische Strahlung trifft zunächst die obere Atmosphäre der Erde und sprengt dabei die Kerne von Sauerstoff- und Stickstoffgas auseinander, wodurch zahlreiche Sekundärteilchen entstehen. Diese legen in der Atmosphäre nur eine kurze Strecke zurück und sorgen durch Kollisionen für weitere Teilchenkaskaden. Am Ende entsteht ein breitgestreuter Schauer aus Milliarden von Sekundärteilchen, die auf der Erde von den großflächig verteilten Detektoren des Teleskop-Array wahrgenommen werden. Die Menge der geladenen Teilchen, die auf jeden Detektor treffen, gibt dabei Aufschluss über die Energie des Primärteilchens.

Als mysteriös erwies sich jedoch nicht nur die Energie, mit der das Teilchen daherkam. Auch seine Ursprungsregion sorgt für Kopfzerbrechen: In der Richtung, aus der diese Strahlung eintraf, ist eigentlich nicht viel zu finden. Ihre Quelle lag in der sogenannten Lokalen Leere, einer weitgehend verwaisten Zone des Weltraums, die direkt an den Galaxienhaufen unserer Milchstraße, die Lokale Gruppe, grenzt.

Video: Das "Oh-mein-Gott-Teilchen"
PBS Space Time

Rätselhafter Ursprung

"Die Teilchen sind so energiereich, dass sie von galaktischen und außergalaktischen Magnetfeldern nicht beeinflusst werden sollten", sagte John Matthews, Co-Autor der Arbeit. "So konnten wir das neue Teilchen aufgrund seiner Flugbahn zwar bis zu seinem theoretischen Ursprung zurückverfolgen – nur gibt es dort nichts, was energiereich genug wäre, um es zu erzeugen. Das ist das Rätsel an der Sache", so der Physiker.

Das Team verlieh dem außergewöhnlichen Ereignis den Namen "Amaterasu". Als Patin diente die japanische Sonnengöttin, die nach dem Shinto-Glauben auch das japanische Kaiserhauses begründet hat. Göttlichen Ursprungs ist das Phänomen freilich nicht, aber womöglich weist es auf Lücken im aktuellen Weltmodell hin. "Vielleicht könnte 'Amaterasu' einem bisher unbekannten astronomischen Prozess abseits des Standardmodells der Teilchenphysik entstammen", spekulierte Fujii. (Thomas Bergmayr, 25.11.2023)