Die Geschichte von Frieden und Freundschaft begann, man muss es sagen, mit einem Kinnhaken. Im Jahr 2003 stieg in der Rue Jean-Moulin des Pariser Vororts Ris-Orangis ein junger Mann aus seinem Auto und schlug den Rabbiner Michel Serfaty bewusstlos. "Die antisemitischen Anschläge im Großraum Paris hatten schon drei Jahre zuvor eingesetzt, als Ariel Sharon in Jerusalem den Tempelberg aufsuchte und die zweite Intifada auslöste", erzählt Serfaty (80) heute. "Und die übertrug sich dann bis in die französische Banlieue."

Im Jahr danach, 2004, gründete Serfaty in seiner Wohngemeinde die "jüdisch-muslimische Freundschaft in Frankreich" (AJMF). Es gibt schönere Orte als Ris-Orangis: Gesichtslos und ohne richtiges Zentrum ist es umgeben von berühmt-berüchtigten Nachbargemeinden wie Grigny, Evry oder Fleury-Mérogis, wo das größte Gefängnis Europas liegt. Und wo die antisemitischen Attacken seit dem 7. Oktober sprunghaft zugenommen haben.

Imam Mouloud al-Ouassia und Rabbiner Michel Serfaty
Imam Mouloud al-Ouassia und Rabbiner Michel Serfaty grüßen einander mit "mon ami".
Brändle

Nicht in Ris-Orangis: Hier leben vier Glaubensgemeinschaften in Eintracht zusammen, sagt der Rabbiner. Seine Synagoge liegt in der Rue Jean-Moulin gleich neben der Moschee, getrennt nur durch die Evangelische Kirche und die Gemeindepolizei; die katholische Kirche befindet sich am Ende der Straße. Wer staunend anfügt, nur die Buddhisten fehlten, sieht sich von Michel Serfaty korrigiert: "In Evry liegt der größte Buddhistentempel des Westens!"

"Leben als gute Nachbarn nicht stören"

Es ist Mittag, ein paar ältere Muslime, aber auch Jüngere in bodenlangen Abayas, verlassen nach dem zweiten Tagesgebet die völlig schmucklose Moschee in einem zweistöckigen Plattenbau. Hier gibt es keine Spannungen, nicht einmal scheele Blicke. Als der Imam Mouloud al-Ouassia im braunen Gewand und mit breitem grauweißen Bart vorbeigeht, grüßt er den Rabbiner mit dem schwarzen Hut herzlich als "mon ami" – mein Freund.

Beide erzählen in der Herbstsonne, wie ihre Glaubensgemeinschaften seit Jahrzehnten zusammenleben. "Wobei es mehr als ein Zusammenleben ist – es ist Freundschaft", sagt der Rabbiner, und der Imam nickt. Man statte sich Besuche ab, begehe das Ende des Ramadan mit einer gemeinsamen Tafel; einmal sei man zusammen nach Auschwitz gereist. Und sehr wichtig: Auf ihr Betreiben sei Ris-Orangis mit einer israelischen und einer palästinensischen Gemeinde eine Städtepartnerschaft eingegangen.

Zum neu aufgeflammten Nahostkonflikt sagt Serfaty etwas steif: "Wir haben beschlossen, unser Leben als gute Nachbarn davon nicht stören zu lassen." Al-Ouassia sagt gar nichts. Während die Muslimverbände um Paris nach dem 7. Oktober weitgehend durch Schweigen auffielen, hatte der Imam von Ris-Orangis jedoch mit einer Delegation seiner Moschee die Synagoge aufgesucht. Dort erklärte er, der Islam habe mit diesen Terroranschlägen auf Frauen und Kinder nichts zu tun. Man wolle und solle in Frieden leben.

Gefährdeter Frieden

Serfaty und al-Ouassia, beide in hohem Alter stehend, sind sich bewusst, wie heikel die Lage für sie beide ist, wie enorm der Druck und die Angst ihrer Gemeinschaften – und wie gefährdet der Frieden. In einem spontanen, aber nicht minder feierlichen Akt berühren beide den Gehsteig der Rue Jean-Moulin mit ihren Händen. Mit einer Geste der Segnung sagen sie: Auf dass unsere Erde von Ris-Orangis verschont bleibe von den Animositäten im Nahen Osten und in Frankreich.

Gefragt, ob sie denn einen Ausweg aus den Kriegshandlungen in Gaza sähen, bleiben die zwei Gottesmänner stumm. Zu heiß, um auf die Schnelle einen Kommentar abzugeben. Der Imam muss nun weiter – schließlich wird er zwei Stunden später zu einem weiteren Gebet erwartet.

Zurückgeblieben, sagt dann Serfaty ohne Umschweife, Israel müsse sich "der Hamas entledigen". Eine Friedenslösung komme nur infrage, wenn die Geiseln freigekommen seien. "In der Bibel steht: Du sollst nicht töten, und du sollst nicht stehlen." Die Hamas verletze beide Gebote. Wichtig sei aber auch die Frage, ob der Islam zu einer Koexistenz mit einer anderen Religion bereit sei. "Das kann nur der Fall sein, wenn die Muslime im Menschen wie wir Juden und Christen ein gottgeschaffenes Bild sehen. Ich habe den Imam gefragt, ob es im Koran entsprechende Passagen gebe. Er bat um eine eintägige Überlegungsfrist und verneinte dann", erzählt der Rabbiner, der an der Universität Philologie lehrte. "Aber wenn der Mensch nicht das Abbild Gottes ist, kann er keinen Frieden schließen. Da hat der Islam noch viel Arbeit vor sich."

Streitgespräch zwischen Schülern

So pessimistisch Serfaty in Sachen Nahostkonflikt ist, so sehr freut ihn, dass dieser nicht auf Ris-Orangis abfärbt. "Wir sind wie das Gallierdorf, das Widerstand leistet – hier gegen den Antisemitismus, den antimuslimischen Rassismus, Diskriminierung." Er selbst besucht gerne andere Banlieue-Orte. Auch wenn sie gegen Juden abweisend eingestellt sind, voller Hinterhalte stecken? Dann erst recht! Schließlich sei der Schlag, den Serfaty erhalten hatte, "der einzige in fünfzig Jahren" gewesen.

Serfatys Lebenswerk, der Verein der jüdisch-muslimischen Freundschaft, hatte es am Anfang schwer; der Rabbiner wurde belächelt, von beiden Seiten als "Clown" abgetan. Heute hat die AJMF ein halbes Dutzend Festangestellte. Sie organisieren vor allem Stages für Mittelschüler. In dem engen Büro zwischen Moschee und Synagoge sitzen gerade vier Jugendliche: Sonja, Yannis, Mohammed, Amin. Neben ihnen eine Fotomontage: "Ich habe von Gott geträumt. Sie war schwarz."

Stirnrunzeln verursacht bei ihnen eine Schularbeit an der Wand: "Die Juden im Koran". Das ist für die meisten neu. Serfaty erklärt, inklusive der Geschichte von Isaak und Ismael. Dann zeigt er auf ein Buch über "Cyber-Hass". Im Internet, aber auch auf der Straße hätten die Behörden seit dem 7. Oktober über 1.700 antisemitische Attacken gezählt. "Und wie viele gegen Araber?", fragt Yannis. Viel weniger, sagt Serfaty. "Aber nur, weil wir diese Anfeindungen gar nicht erst deklarieren", korrigiert Amin. "Das bringt ja nichts." In Frankreich kritisierten die Medien auch nur den Rassismus gegen die Juden, nie gegen die Muslime, fügt Yannis an. "Wir werden stärker diskriminiert als die Juden. Hier in Ris-Orangis habe ich noch nie ein antisemitisches Graffiti gesehen."

Hass von Tiktok

Das ist auch Serfatys jahrzehntelanger Aufbauarbeit zu verdanken. Der mürrisch wirkende, aber überall beliebte Rabbiner meint später unter vier Augen, er sei froh, dass die Jugendlichen zu ihm so offen und kritisch seien. Viele Jungs solidarisierten sich mit den Palästinensern, weil sie sich in ihrem eigenen Land – Frankreich – selber unerwünscht und ausgegrenzt fühlten.

Hier in dem schlauchartigen Büro der Rue Jean-Moulin finden sie wenigstens ein offenes Ohr. Vielleicht hören sie deshalb ihrerseits auf den alten Mann.

Im Fastfoodlokal "Good Smash Burger", wo die Jugend von "Ris" verkehrt, plärrt es derweil zur Lunchzeit gerade aus dem Lautsprecher: "Der Apartheidstaat Israel setzt seinen Genozid mit Bombenabwürfen auf Zivilisten in Gaza fort ..." Gefragt, welcher Radiosender das sei, antwortet der Wirt: "Tiktok". Das sei viel besser als die offiziellen Medien. (Stefan Brändle aus Ris-Orangis, 29.11.2023)