Die 13-jährige Hila Rotem Shoshani wird nach ihrer Freilassung von ihrem Onkel geherzt.
Die 13-jährige Hila Rotem Shoshani wird nach ihrer Freilassung von ihrem Onkel geherzt. Ihre Mutter Raya wird allerdings weiter als Geisel gehalten.
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Aviv Havron ist überglücklich. Seine 67-jährige Schwester Shoshan ist nach 50 Tagen Geiselhaft zurück in Israel, gemeinsam mit ihrer Tochter Adi und den Enkeln, der dreijährigen Yahel und dem achtjährigen Naveh. Am Samstagabend wurden sie ins Sheba-Krankenhaus nahe Tel Aviv gebracht, dort konnte Aviv sie besuchen. Von einer Nacht voller Freudentränen erzählt er. "Wir haben bis zum Morgen nicht geschlafen."

Video: Vater schließt totgeglaubte neunjährige Hamas-Geisel in die Arme
AFP

Die Freude der Kinder, wieder zu Hause zu sein, ist jedoch getrübt: Ihr Vater Tal, der ebenfalls am 7. Oktober nach Gaza verschleppt wurde, ist immer noch in der Gewalt der Hamas. Er soll getrennt von seiner Familie festgehalten worden sein. Der israelisch-österreichische Doppelstaatsbürger wird wohl auch in den kommenden Tagen nicht nach Hause zurückkehren können: Der Deal Israels mit der Hamas sieht vor, dass im ersten Schritt nur Frauen und Kinder freigelassen werden.

Am Freitag konnten die ersten 24 freigelassenen Geiseln nach Israel überstellt werden, am Samstag wurden weitere 17 Verschleppte befreit. Jeden Tag beginnt das Zittern von Neuem. So war am Samstag bis zuletzt unklar, ob die Übergabe funktioniert. Auch am Sonntag war es ähnlich, bis am Abend schließlich doch die Freilassungen von 13 Israelis und vier Ausländern erfolgten.

Das Rote Kreuz fährt die Freigelassenen raus aus Gaza.
Das Rote Kreuz fährt die Freigelassenen raus aus Gaza.
REUTERS/IBRAHEEM ABU MUSTAFA

Stundenlanges Warten

Jeweils am Vorabend werden Listen für den Tag danach ausgetauscht: Die Hamas gibt bekannt, welche 13 israelischen Geiseln in der nächsten Etappe freigelassen werden. Israel wiederum übermittelt die Namen der 39 palästinensischen Gefangenen, die ihre Haft vorzeitig abbrechen dürfen. Am Samstag dauerte es jedoch einige Stunden, bis die Terrorgruppen die Geiseln tatsächlich ans Rote Kreuz auslieferten, das dann die Überstellung der Freigelassenen an den Grenzübergang mit Ägypten durchführt.

Beide Seiten werfen einander vor, sich nicht an den Deal zu halten. Die Hamas behauptet, dass weniger Hilfslieferungen nach Gaza kamen als vereinbart. Indizien, dass der Vorwurf berechtigt ist, gibt es bisher nicht. Auch am Sonntag wurden 200 Lkw-Ladungen in den Gazastreifen gebracht, sie erreichen nun auch den Norden Gazas. In Israel wiederum war man entsetzt zu sehen, dass eine der freigelassenen Minderjährigen von ihrer Mutter, eine weitere von ihrem Bruder getrennt wurde.

Die 21-jährige Maya Regev benötigt zwar Krücken, ist sonst aber wohlauf.
Die 21-jährige Maya Regev benötigt zwar Krücken, ist sonst aber wohlauf.
AFP/HAMAS MEDIA OFFICE/-

Der Deal sieht vor, dass Familien vereint bleiben – vorausgesetzt, es handelt sich um Minderjährige oder Frauen. Dass sich die Hamas nicht daran hielt, begründete die Terrorgruppe damit, dass man nicht wisse, wo sich die Angehörigen befänden. Eine Lüge, wie die 13-jährige Hila Rotem Shoshani belegt: Sie sei die ganze Zeit hindurch bei ihrer Mutter Raya gewesen, sagte Hila am Sonntag. Erst zwei Tage vor Hilas Befreiung habe man sie von der Mutter getrennt.

Viel aufzuholen

Die in Israel vereinten Familien haben viel aufzuholen. "Wir wissen fast nichts von dem, was dort geschah. Und sie wissen nur sehr wenig von dem, was hier passierte", sagt Aviv über Shoshan, Adi und die Enkelkinder. Shoshans Ehemann wurde von den Terroristen ermordet, genauso wie ihre Schwester und deren Mann.

Doron Asher und die beiden Töchter werden von ihrem Vater und Mann umarmt.
Doron Asher und die beiden Töchter werden von ihrem Vater und Mann umarmt.
AFP/Schneider Hospital Spokesper

In den Wochen seit dem 7. Oktober lebten die zwei Teile der Familie in unterschiedlichen Universen. Die Geiseln in Gaza wussten zwar, dass Krieg ist – der Lärm und die Erschütterungen infolge der Bombardierungen waren allgegenwärtig. Von den Massakern in den Kibbuzim und auf dem Festivalgelände, von der Folter und den Verstümmelungen wissen sie nichts. Auch vom Schicksal ihrer Angehörigen, Freunde und Nachbarn erfahren sie erst jetzt.

Die 78-jährige Ruti Munder, die mit ihrer Tochter Keren und deren Sohn Ohad am Freitag nach Israel zurückkehren konnte, war in den 49 Tagen ihrer Gefangenschaft auch damit beschäftigt gewesen, um ihren Mann Avraham zu trauern. "Am Freitag konnten wir ihr sagen, dass er am Leben ist, aber nach Gaza verschleppt wurde", erzählt Merav Raviv, Kerens Cousine. Zugleich musste Ruti erfahren, dass ihr Sohn Roey, Kerens Bruder und Ohads Onkel, ermordet wurde.

Kaum zu essen in Geiselhaft

Auch Ruti und Keren erzählten: von den Umständen in der Geiselhaft, von der Nahrung, die nie ausreichte. "An manchen Tagen bekamen sie gar nichts zu essen, an anderen nur ein bisschen Brot oder Reis." Keren habe rund acht Kilo verloren, auch Ohad und Ruti hätten abgenommen. Um auf die Toilette gehen zu können, musste man an einer Tür klopfen, manchmal dauerte es eineinhalb Stunden, bis die Bitte erhört wurde. Geschlafen wurde auf Plastikstühlen. An die Hoffnung, bald befreit zu werden, wagte sich niemand zu klammern. Keren sagt, sie habe gewusst, dass es sehr lange dauern würde, bis man sie befreien würde.

Auch der neunjährige Ohad Munder ist wieder bei seiner Familie.
Auch der neunjährige Ohad Munder ist wieder bei seiner Familie.
AP

Indes mehren sich Hoffnungen, dass die Waffenruhe noch um ein paar Tage verlängert werden könnte, sodass am Ende mehr als die vereinbarten 50 Geiseln aus der Gewalt der Hamas entlassen werden. Danach will Israels Armee den Kampf gegen die Terrorgruppen aber erneut aufnehmen.

Die Angehörigen der befreiten Geiseln verlangen nun, dass sich die Regierung auch für die übrigen Verschleppten einsetzt. "Wir müssen weiter für sie kämpfen", sagt Adva Adar, Enkelin der am Freitag freigelassenen 85-jährigen Yaffa Adar. "Dieses Land kann sich nicht erholen, solange nicht alle Geiseln wieder zu Hause sind." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 26.11.2023)