"Es wird nie wieder so gut sein wie in unserem Arzach", erzählt die 32-jährige Aneta. "Republik Arzach" – so nennt sie Bergkarabach, ihre Heimat, aus der sie fliehen musste. Wie über 100.000 andere Menschen auch, nachdem aserbaidschanische Truppen Bergkarabach in einem 24-stündigen Krieg erobert hatten. "Wir waren fast 18 Stunden unterwegs. Wir haben alles, was wir hatten, dort gelassen. Und niemand weiß, was mit uns passieren wird. Jetzt haben wir nichts. Wir hatten keine Zeit, irgendetwas mitzunehmen, nur Kleidung und unsere Dokumente."

Die Stadt Goris, an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan, ist ihr Fluchtpunkt geworden. Wie es weitergehen wird, jetzt wo der Winter kommt, dies wissen die wenigsten der Flüchtlinge.

100.000 Menschen mussten vor wenigen Monaten vor den Kämpfen um Bergkarabach fliehen. Wo sie bleiben können, ist eine oft ungelöste Frage.
REUTERS/IRAKLI GEDENIDZE

Ihre "Republik Arzach" ist völkerrechtlich nicht anerkannt, gehört zu Aserbaidschan. Doch ethnisch sind sie Armenier – und leben nun als Flüchtlinge im eigenen Land. Wer keine Verwandten in Armenien hat, der kann für kurze Zeit in Goris bleiben und sich hier als Flüchtling registrieren lassen. Aber was dann?

Für das bettelarme Armenien mit gerade mal 2,9 Millionen Einwohnern sind 100.000 Flüchtlinge aus Bergkarabach ein großes Problem. "Einige werden zu Verwandten in Russland oder anderswo gehen. Der Rest wird gezwungen sein, sich in die Gesellschaft zu integrieren und weiterzuleben", sagt der armenische Politikwissenschafter Johnny Melikyan zur Zeitung "RBC".

Während auf der politischen Ebene Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan beginnen, muss die Regierung in Eriwan mit dem Flüchtlingsstrom fertig werden. Umgerechnet rund 250 Euro erhält jeder Flüchtling fürs Erste. Armenien ist auf Hilfe von außen angewiesen. Frankreich will eine Million Euro in das Welternährungsprogramm investieren, "um den Bedarf Armeniens nach der Zwangsumsiedlung von 100.000 Armeniern aus Bergkarabach zu decken", so Olivier Decotigny, der französische Botschafter in Eriwan. Auch die EU hilft. Und aus Russland kamen 40 Tonnen humanitäre Güter, darunter Lebensmittel, Decken und ein mobiles Kraftwerk.

Von Moskau enttäuscht

Trotz dieser Hilfslieferung: Von Moskau zeigt sich Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan enttäuscht. Einem Gipfeltreffen des von Moskau dominierten Verteidigungsbündnisses OVKS im belarussischen Minsk blieb Armenien fern. Paschinjan hatte abgesagt, weil Armenien sich von seiner traditionellen Schutzmacht Russland im Stich gelassen fühlt. Moskau habe Armenien nicht unterstützt, als Aserbaidschan Bergkarabach eroberte.

Nach den Worten von Paschinjan gibt es zwischen Armenien und Aserbaidschan eine Einigung auf die Grundsätze eines Friedensvertrags. Dazu hätten die Vermittlung von EU-Ratspräsident Charles Michel und seine eigenen Treffen mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew in Brüssel beigetragen, so Paschinjan laut der russischen Nachrichtenagentur Tass. Paschinjan schlug laut derselben Quelle einen Austausch sämtlicher Kriegsgefangener beider Länder vor.

Voreingenommenheit?

Alijew und Paschinjan haben bereits in mehreren Runden unter Vermittlung der EU verhandelt. Zuletzt aber lehnte Aserbaidschan Gesprächsrunden mit Paschinjan in Spanien und den USA ab. Baku begründete die Absage der Gespräche in Spanien mit einer "Voreingenommenheit" Frankreichs, das neben der EU und Deutschland vermitteln sollte. Auch die USA seien "voreingenommen".

Paschinjan hingegen wirft Aserbaidschan neue Kriegspläne vor. "Uns scheint, dass Vorbereitungen zum Entfachen eines neuen Kriegs, einer neuen militärischen Aggression gegen Armenien laufen", sagte er. Paschinjan beklagt, Baku plane weitere Eroberungen.

Den Flüchtlingen aus Bergkarabach helfen all die schwierigen Friedensverhandlungen wohl nicht. Zurück in ihre Heimat können sie nicht mehr. "Ich habe 30 Jahre damit verbracht, mir eine eigene Wohnung zu verdienen", sagt die 65-jährige Venera Arakelyan. "Ich habe keine Kinder, ich habe mich 25 Jahre lang um meinen Vater gekümmert. Ich hatte eine renovierte Dreizimmerwohnung. Ich habe alles zurückgelassen. Wo werde ich leben?" (Jo Angerer aus Moskau, 28.11.2023)