Spätestens als am Sonntag die Sonne über der Südukraine unterging, wussten ihre Bewohnerinnen und Bewohner, dass es schlimm kommen würde. Die einzige Frage war, wie schlimm. Um die Mittagszeit war der beständige Regen der vergangenen Tage von dichtem Schneefall und Windböen abgelöst worden, die bis zu 90 km/h erreichten. Die Vorboten des Zolls, den das für hiesige Verhältnisse extrem ungewöhnliche Wetter in den kommenden Stunden fordern würde, machten sich noch am selben Tag bemerkbar. Unter der Schneelast und dem Winddruck einknickende Bäume, gerissene Strommasten und -leitungen, eine zeitweise komplett gekappte Wasserversorgung: In der Hafenstadt Odessa und ihrer Umgebung ging bereits zu diesem Zeitpunkt nichts mehr.

Bäume stürzen unter der Schneelast um.
Bäume stürzten unter der Schneelast um.
Klaus Stimeder

In den lokalen Telegram-Kanälen jagte in den Abendstunden eine Aufforderung der Stadt- und Bezirksbehörden die nächste. Tenor: Jeder, der nicht unbedingt auf die Straße muss, soll zu Hause bleiben, um sie der Feuerwehr, der Polizei, den Rettungskräften und den Mitarbeitern der Elektrizitäts- und Wasserwerke zu überlassen.

Ukraine: Hunderte Orte wegen Wintereinbruch ohne Strom
Video: In der Ukraine sind nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj hunderte Ortschaften wegen eines Wintereinbruchs von der Stromversorgung abgeschnitten.
AFP

Enorme Schäden

Wie enorm der Schaden des fast die ganze Nacht lang wütenden Wintersturms war, wurde erst am Montagmorgen klar. Zu diesem Zeitpunkt galt in Odessa und dem Nachbarbezirk Mikolaiv längst der Ausnahmezustand. Während es bisher offiziellen Angaben zufolge keine Todesopfer gab, musste allein in der Schwarzmeer-Metropole ein gutes halbes Dutzend durch herunterfallende Äste verletzte Menschen ärztlich versorgt werden. 48 Menschen, darunter Kinder, die auf den nach und aus Odessa heraus führenden Schnellstraßen in ihren Autos festsaßen, konnten teils erst im Lauf des Vormittags geborgen und versorgt werden.

Der an manchen Stellen bis zu zweieinhalb Meter hohe Schnee legte zudem den trotz Krieges regen transnationalen Lkw-Verkehr der gesamten Region lahm. Die Grenze zur Republik Moldau liegt nur rund 60 Kilometer von Odessa entfernt – eine Strecke, auf die sich am Montagnachmittag immer noch hunderte gestrandete Lastwagen stauten. Die Regierung in Chișinău reagierte auf das Chaos im Nachbarland mit einem temporären Einreisestopp.

Im von dem Wintersturm am härtesten getroffenen Oblast Odessa gingen die Aufräum- und Reparaturarbeiten am Montag nur langsam voran. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt mühten sich die ob der beständigen russischen Raketen- und Drohnenangriffe chronisch überlasteten Mitarbeiter der lokalen Elektrizitäts- und Wasserwerke, zumindest provisorisch eine Minimalversorgung mit Strom und Warmwasser zu garantieren. Eine Arbeit, die nicht zuletzt durch den Umstand erschwert wurde, dass in der Nacht eine der größten Warmwasseraufbereitungsanlagen am Nordrand Odessas schwer beschädigt wurde.

Winterdienst in Kriegszeiten.
Winterdienst in Kriegszeiten.
Klaus Stimeder

Am Montagnachmittag waren immer noch zehntausende Menschen – vor dem Krieg zählte die Stadt knapp über eine Million Einwohner, heute leben hier geschätzt noch rund 700.000 – von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten, darunter zahlreiche Spitäler, Kindergärten und Schulen. Auch wenn es für ein derartiges Unwetter nie einen günstigen Zeitpunkt gibt, fürchten viele Odessiter, dass Russland die Situation für eine Wiederholung dessen ausnützen könnte, was seine Streitkräfte bereits im Winter 2022/23 versuchten: die Energieversorgung der gesamten Region mittels Angriffen auf deren entsprechende Infrastruktur so großflächig wie nachhaltig lahmzulegen.

Angst vor russischer Offensive

Als Indiz für die Vorbereitung einer solchen Neuauflage gilt einerseits der in den vergangenen Wochen wieder regelmäßige Einsatz von Aufklärungsdrohnen "made in Iran". Nämliche dringen bisweilen bis in den Luftraum über dem Zentrum Odessas ein. Weil manche dieser Drohnen extrem tief fliegen, werden sie bisweilen erst kurz vor dem Erreichen der Küste entdeckt. Andererseits scheinen die Russen auf der Krim und in den besetzten Gebieten der Südostukraine laut ukrainischen Militärsprechern seit Monaten Raketen für einen Großangriff auf die Energieversorgung zu horten. (Klaus Stimeder aus Odessa, 27.11.2023)