Lena Cornelissen
Lena Cornelissen hat einen Blitschlag überlebt, seither hat sie massive Verbrennungen. Sie engagiert sich für Menschen mit Behinderung.
MARCVSFILM/Frank Dicks

Auf Station 13.i1 hängt kein Spiegel. Manche Menschen, die hier aufwachen, wollen sich ohnehin nicht sehen. Wird der Verband gewechselt, blicken sie weg, erzählt Anna Pittermann, klinische Psychologin am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH). Doch bevor eine Person die Station verlässt, sollte sie ihr Spiegelbild gesehen haben, das ist Pittermann wichtig: "Denn die Konfrontation damit wird kommen. Und mir ist lieber, sie kommt in einem geschützten Rahmen als irgendwann allein zu Hause."

Psychologin Pittermann arbeitet in der Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie im AKH. Station 13.i1 für Schwerbrandverletzte gehört zu dieser Klinik. Pittermann saß schon am Krankenbett von jungen Männern, die sich bei Arbeitsunfällen massive Verbrennungen zugezogen haben. Bei Frauen, die mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen sind. Und auch bei Menschen, die sich selbst angezündet haben.

Distanz schaffen

Sie alle wachen bandagiert und völlig bewegungsunfähig auf. Manche können sich an den Unfall gar nicht mehr erinnern. Genau hier beginnt die psychologische "Erstversorgung" durch Pittermann. Sie erklärt den Überlebenden, wo sie sich befinden und was genau passiert ist. Dann folgt die gemeinsame Arbeit: zu lernen, wie die Betroffenen mit den langfristigen mentalen Konsequenzen ihrer Verletzungen umgehen können.

Wer denkt, dass die Größe der Verbrennung mit der Schwere der psychischen Folgen in Relation steht, täuscht sich, erzählt Pittermann. Man kann nichts pauschalisieren. Manche kommen auch mit auffälligen Narben gut zurecht, andere sind schon von kleinen Narben stark verunsichert. Was Betroffene gemein haben, ist die Scham über ihr Erscheinungsbild. Pittermann beschreibt ihren Patientinnen und Patienten für gewöhnlich ihr Aussehen, bevor sie sich zum ersten Mal tatsächlich selbst sehen. Ist ihnen das Spiegelbild noch zu viel, fotografiert Pittermann sie. Ein Foto schafft etwas Distanz.

Klinische Psychologin Anna Pittermann
Anna Pittermann ist Klinische Psychologin. Sie begleitet auf Station 13.i1 im Wiener AKH Schwerbrandverletzte.
Magdalena Willert

"Wie ein Monster"

Die Deutsche Lena Cornelissen wurde nach ihrer Verbrennung nicht auf ihr neues Aussehen vorbereitet. Sie sah sich drei Monate, nachdem sie im Krankenhaus aus dem künstlichen Koma erwacht war, zum ersten Mal. Ihr Gesicht spiegelte sich in der dunklen Oberfläche ihres Handys. Unabsichtlich. Der Anblick, den sie kurz erhaschte, war schrecklich für sie: "Ich fühlte mich wie ein Monster." Eineinhalb Monate später versuchte sie es noch einmal: nicht so schlimm wie befürchtet. "Ich glaube, sehr viele Leute hätten ein sehr viel größeres Problem, mit meinem Aussehen klarzukommen, als ich selbst", sagt die 24-Jährige heute.

Cornelissen überlebte einen Blitzschlag und lebt seitdem mit ihren Verbrennungsnarben – aber auch mit chronischen Schmerzen und Müdigkeit, einer Hörbehinderung und Koordinationsproblemen, die sich in einer Gehbehinderung zeigen. In der Öffentlichkeit zieht sie lang anhaltende Blicke auf sich, Fremde fragen sie beim Einkaufen, was ihr denn passiert sei. Andere wiederum meiden ihren Blick, im Bus zum Beispiel. "Es macht einen großen Unterschied, ob dich die Gesellschaft als behindert liest oder nicht", sagt Cornelissen. "Die Norm ist gut, die Abweichung ist schlecht und wird eben entsprechend seltsam behandelt."

Dilemma der öffentlichen Sichtbarkeit

Als Influencerin und Stadträtin für die Grünen in Bonn will Cornelissen an dieser vorherrschenden Ordnung etwas ändern. Sie engagiert sich für behindertenpolitische Teilhabe, gegen Ableismus, also Ungleichbehandlung wegen körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung, und für bessere Vernetzung in der Community. Für die Inklusion von Personen mit Behinderung müsse menschliche Vielfalt deutlich stärker repräsentiert und thematisiert werden, sagt sie. Die Erfahrungen von Cornelissen machen nämlich eines offensichtlich: das Dilemma der öffentlichen Sichtbarkeit.

Knapp 1400 Menschen wurden in Österreich allein im Jahr 2020 nach einer Behandlung aufgrund von Verbrennungen oder Vera¨tzungen aus einem stationären Aufenthalt entlassen. Aber: "Wie viele Menschen mit großflächigen Brandnarben trifft man auf der Straße oder in der U-Bahn?" fragt Psychologin Pittermann. Für sie steht die öffentliche Präsenz in keiner Relation dazu, wie viele Betroffene es gibt. Sie befürchtet, dass ihre Patientinnen und Patienten sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen.

Zu wenig Angebot

Zudem gibt es wenig spezifisches Angebot in der psychologischen Betreuung. Pittermann begann 2006 als erste Psychologin, die der Station zugeteilt wurde. Sie kennt bis heute keine weitere Psychologin in Österreich, die sich auf Verbrennungspatienten spezialisiert hat. Sie vernetzt sich deshalb europaweit und international.

Lesia Cartelli als Mädchen und als Erwachsene
Lesia Cartelli wurde als Kind bei einer Gasexplosion schwer verletzt. Sie hat im Jahr 2003 die NGO Angel Faces gegründet. Diese unterstützt Mädchen und junge Frauen mit Brandnarben.
Angel Faces, Lesia Cartelli

Eine, die unglaublich viel für die Sichtbarkeit von Menschen mit Verbrennungen tut, ist Lesia Cartelli. Die US-Amerikanerin war neun Jahre alt, als bei einer Gasexplosion im Haus ihrer Großeltern in Detroit 50 Prozent ihrer Haut verbrannten. Der Unfall an sich war für sie nicht das Schlimmste: "Das wirkliche Trauma passierte, als ich das Krankenhaus verließ und merkte, wie man auf mich reagierte", erzählt sie. 2003 gründete die mittlerweile 63-Jährige die NGO Angel Faces. Diese hilft betroffenen Mädchen und jungen Frauen: In Retreats lernen sie, mit dem Trauma umzugehen.

Cartelli ist eine der wenigen internationalen Vorreiterinnen im Einsatz für die mentale Gesundheit von jungen Frauen mit Verbrennungsnarben. Ihr Credo: Die Gesundheitsversorgung muss einen Schritt weiterdenken. Denn: "Was bringt es, Millionen von Dollar dafür auszugeben, eine Person mit hochgradigen Verbrennungen wieder zusammenzuflicken, wenn sie danach ihr Haus nicht mehr verlassen will?"

Gegen Scham und Schuld

Der unabhängige, geschützte und professionelle Rahmen der Community ist für Betroffene wichtig, um sich völlig öffnen zu können. Oft liegt nämlich ein diffuses Gefühl von Scham und Schuld über der gesamten Familie, etwa weil der Unfall von einem Familienmitglied verschuldet worden ist oder weil man das Kind nicht davor beschützen konnte. Cartelli betont: "Wir als Betroffene tragen nicht den Ballast der Scham- und der Schuldgefühle, der oft auf den Familien meiner Mädchen lastet."

Eine ähnlich starke Vernetzung unter Betroffenen existiert in Österreich nicht. Es gibt kleinere Selbsthilfegruppen, die sich eigenständig organisieren. Sie können von Ärztinnen und Psychologen unterstützt werden. Aber trotz Jahren an Berufserfahrung und Weiterbildungen kann Psychologin Pittermann nicht das leisten, was Betroffene bieten, betont sie selbst: eine Schwerbrandverletzung selbst erlebt und überlebt zu haben – und die eigenen Narben vielleicht sogar mit Stolz davon erzählen zu lassen. (Magdalena Willert, 12.12.2023)