"Mein Mann wurde schwer verwundet, er bekam eine Salve von sechs Kugeln aus einem automatischen Gewehr ab. Eine traf seine Schulter, vier trafen seinen Arm und sein Bein", erzählt Olesja Nikolaewna. "Gott sei Dank kehrte er lebend, aber behindert, zurück. Sein linker Arm wurde amputiert." Dann begann der Leidensweg des russischen Kriegsversehrten. Die Operation in einem Sankt Petersburger Krankenhaus verlief gut, die dringend benötigte Prothese allerdings bekam er noch nicht. "Sie sollten innerhalb von sechs Monaten eine Prothese bereitstellen, aber neun Monate sind bereits vergangen. Die Zeit vergeht, die Nervenenden in der Hand sterben ab, und es kommt zum Schwund des Muskelgewebes", befürchtet Nikolaewna.

Prothesen für russischen Soldatem
Medizinische Versorgung für russische Kriegsveteranen ist schwierig – wenn sie Prothesen benötigen, dann umso mehr.
IMAGO/ITAR-TASS

Wie viele Russen mit schweren Verletzungen aus der Ukraine heimkehren, das ist ein Staatsgeheimnis. Rechercheure und Datenjournalisten der Onlineportale "Meduza" und "Mediazona" schätzten die Zahl der Kriegstoten mit Stand Mai (neuere Daten gibt es nicht) auf knapp 50.000. "Unser Wissen über weitere Verluste der russischen Armee ist deutlich weniger umfassend. Berücksichtigt man die Schwerverletzten, die aufgrund ihrer Verletzungen aus dem Dienst entlassen wurden, dürfte die Gesamtzahl der Verluste bei rund 125.000 liegen." Tausende Schwerverletzte, viele mit amputierten Gliedmaßen: Dies stellt das russische Gesundheitssystem vor große Probleme.

Mehr als die Hälfte aller Kriegsversehrten, die schwerverletzt aus der Ukraine zurückkommen, haben Amputationen hinter sich, berichtet die russische Zeitung "Rossijskaja Gaseta". Die Zahl habe Alexei Wowtschenko, der stellvertretende Minister für Arbeit und Sozialschutz, Mitte Oktober im russischen Föderationsrat genannt. Sie alle hätten Empfehlungen zur Bereitstellung technischer Hilfsmittel für die Rehabilitation: Prothesen, Rollstühle, Spezialkleidung, orthopädische Schuhe. Doch daran mangelt es in Russland.

Mangel an Prothesen

"Zumindest in Tatarstan (autonome Republik im östlichen Teil des europäischen Russlands, Anm.) haben wir gewisse Probleme. Hüftgelenke – zumindest mehr oder weniger. Aber es gibt jetzt einen konkreten Mangel an Kniegelenken", erklärte schon im Juni Marsel Minullin, der tartarische Gesundheitsminister. Den Mangel an Prothesen und anderen Hilfsmitteln für Kriegsversehrte will man jetzt angehen. Er beschäftigt auch die Staatsduma, das russische Parlament. "Die Aufgabe von uns allen besteht darin, alle bestehenden Probleme zu erkennen und sofort Maßnahmen zu ihrer Lösung zu ergreifen", sagt die Abgeordnete Tamara Frolowa der Onlineplattform "Mosregtoday.ru": "Unsere Jungs sollten auf keinen Fall ohne Unterstützung dastehen!" Helfen soll jetzt unter anderem auch der frisch gegründete Staatsfonds "Verteidiger des Vaterlands".

Soldaten können Prothesen entweder über das Verteidigungsministerium oder über die Krankenversicherung erhalten. Dazu müssen sie einen Antrag auf Behinderung stellen. Und dann heißt es oftmals warten. Russlands Medizinindustrie versucht, dem Mangel gegenzusteuern. So investiert etwa der Konzern Rostec eine Milliarde Rubel, rund zehn Millionen Euro, in die Herstellung von Hightech-Prothesen. Mikromotoren, die dafür benötigt werden, haben früher westliche Hersteller geliefert. Jetzt ist der Export sanktioniert, sie könnten auch in der Rüstungsindustrie verwendet werden. Nun kommen die Antriebe aus China – oder werden unter Umgehung der Sanktionen über Drittländer importiert.

Soldaten, die im Ukrainekrieg schwer verletzt werden, haben Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Umgerechnet rund 30.000 Euro bekommen sie aus einem Topf des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Stirbt ein Kriegsversehrter innerhalb eines Jahres an seinen Verletzungen, erhöht sich die Summe auf 50.000 Euro. Verletzte haben auch Anspruch auf Versicherungsleistungen durch das russische Verteidigungsministerium. Entsprechende Verträge schließen die Behörden mit Versicherern ab. Zusätzlich gibt es noch Zahlungen in einzelnen Regionen. In Moskau beispielsweise erhält ein mobilisierter Soldat bei schweren Verletzungen rund 10.000 Euro, bei leichteren Verwundungen die Hälfte.

Wer zahlt?

Dem 22-jährigen Alexander hilft das allerdings nicht. Er hatte sich freiwillig der Söldnergruppe Wagner angeschlossen, kämpfte in Bachmut. Nur ein Projektil sei es gewesen, sagt er. Im Feldlazarett erklärte ihm der Arzt: "Wir können Ihr Bein retten, aber Sie werden nicht mehr gehen können. Und es besteht das Risiko einer Blutvergiftung." Schließlich die Amputation. Nach langem Hin und Her bekam Alexander seine Prothese, er kann sogar wieder Sport machen. Als Söldner bei Wagner hatte er den Status eines Kriegsveteranen und die damit verbundenen Sozialleistungen nicht bekommen. Jetzt will Alexander vor Gericht gehen.

Geschichten wie diese findet man viele. In Regionalzeitungen, in den sozialen Netzwerken. Kriegsversehrte, die auf Unterstützung warten. Und gleichzeitig mit den psychischen Folgen der Kampfeinsätze zurechtkommen müssen. Posttraumatische Belastungsstörungen seien an der Tagesordnung, weiß die Psychologin Tatjana Kowalenko. "Schlafstörungen, Essstörungen, unerklärliche Aggression oder Gleichgültigkeit gegenüber Familie, Arbeit, Rückzug, Sinnlosigkeit im Leben, Alkoholsucht." Es komme sogar vor, sagt die Psychologin, "dass Veteranen darauf fixiert sind, mit ihren Kameraden an die Front zurückkehren zu wollen."

Über das Leid und die Probleme der russischen Kriegsveteranen soll die breite Öffentlichkeit möglichst wenig erfahren. Dies weiß auch Irina, die als Freiwillige Kriegsversehrte in Petersburger Krankenhäusern psychologisch betreut. Oft gegen den Widerstand der Krankenhausverwaltungen. "Wir sind ständig eingeschüchtert: Wir können das nicht schreiben, wir können nicht darüber reden", sagt Irina dem Onlinemedium "Meduza". Doch die Soldaten seien froh über die Besuche im Krankenzimmer, erzählt Irina. "Befindet sich ein Soldat in einem kritischen Zustand, liegt er meist in der Embryonalstellung, mit dem Rücken zu allen, den Kopf mit einer Decke bedeckt. Es gibt schwierige psychologische Fälle, bei denen man den ganzen Tag mit einer Person verbringen muss." (Jo Angerer aus Moskau, 29.11.2023)