Plakate in den Händen einiger Frauen
Die Familien der Geiseln vernetzten sich untereinander und setzten sich für die Freilassung ihrer Verwandten ein.
AP/Ariel Schalit

Der Überfall der Hamas auf den Süden Israels markierte das größte Massaker an jüdischen Menschen seit der Shoah. Mehr als 1.200 Menschen wurden getötet, rund 240 weitere in den Gazastreifen entführt. Die Geiseln gehören mehr als 40 Staaten an. Unter ihnen sind Zivilisten, Soldaten, Friedensaktivisten, Menschen mit Behinderungen, Kinder, Großeltern und auch ein zehn Monate altes Baby, das immer noch nicht befreit wurde. Die ältesten Geiseln sind über 80 Jahre alt.

Unter Vermittlung von Katar und Ägypten wurde eine Vereinbarung ausgehandelt, die den Austausch israelischer Geiseln gegen palästinensische Gefangene vorsieht. Ende November begann mit einer Feuerpause im Gazastreifen der langerwartete Austausch. Bis zum Ende der Feuerpause am 1. Dezember wurden insgesamt 105 Personen freigelassen, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Im Gegenzug ließ Israel den Angaben zufolge 240 palästinensische Gefangene frei.

"Die Familien der Entführten sind keine Plakate, sie sind keine Slogans, sie sind echte Menschen", sagte Yoni Asher. Seine Frau Doron Katz Asher und ihre beiden Töchter Raz und Aviv, vier und zwei Jahre alt, waren unter den Geiseln. DER STANDARD hat einige ihrer Geschichten recherchiert.

Doron Katz Asher (34) mit Raz (4) und Aviv (2)

Yoni Asher mit Familie
Yoni Asher mit seinen Töchtern und seiner Frau. Sie wurden am Freitag nach 50 Tagen in Geiselhaft freigelassen.
AFP/Schneider Hospital Spokesper

Doron Katz Asher und ihre beiden Töchter Raz und Aviv waren zu Besuch bei ihrer Großmutter im Kibbutz Nir Oz, als die Hamas den blutigen Angriff auf die Ortschaft verübte. Als Dorons Ehemann Yoni Asher seine Familie auf einem Video erkannte, in dem sie zusammen mit anderen Geiseln auf einen Lastwagen verladen wurden, bestand kein Zweifel mehr an der Entführung. Per Handysignal konnte er den Standort seiner Frau nach Gaza zurückverfolgen.

Vergangenen Freitag wurde sie mit ihren Töchtern freigelassen. Zum ersten Mal seit 50 Tagen hielt Yoni Asher seine Familie wieder in den Armen. Er sei dankbar und erleichtert. Aber der Kampf um die Geiseln sei noch nicht vorbei. "Ich werde nicht feiern, bis der letzte der Entführten zurückkehrt", sagte er. "Von heute an sind die Familien der Geiseln meine neue Familie, und ich werde alles tun, damit die letzte Geisel sicher nach Hause zurückkehrt."

Yaffa Adar (85)

Yaffa Adar in Golfwagen mit bewaffneten Hamas-Kämpfern
Yaffa Adar gehört zu den ältesten von der Hamas entführten Geiseln.
AP

Das Foto von Yaffa Adars Entführung ging um die Welt: In eine rosa Decke eingewickelt und mit stoischem Gesichtsausdruck wird sie von bewaffneten Hamas-Kämpfern in einem Golfwagen nach Gaza gebracht. Adar gehört zu den ältesten Geiseln, die von der Hamas entführt wurden. Sie ist Holocaust-Überlebende und eine der Gründerinnen des Kibbuz Nir Oz. Es ist einer jener Orte, die am stärksten vom Anschlag der Hamas betroffenen waren.

Adar hat drei Kinder, acht Enkel und sieben Urenkel. Die Hamas entführte sie zusammen mit einem ihrer Enkelkinder, Tamir Adar (38). Er befindet sich nach wie vor in Geiselhaft. Adar wurde am Freitag freigelassen. "Sie ist über 80 und muss neu anfangen", sagt ihre Enkeltochter Adva Adar. "Ich bin stolz, ihre Enkelin zu sein." Ihre Großmutter habe Stärke gezeigt und hoffe, eines Tages in den Kibbuz zurückkehren zu können.

Avigail Idan (4)

Avigail Idan ist drei Jahre alt, als Terroristen in das Haus ihrer Familie im Kibbuz Kfar Aza eindringen und ihre Mutter erschießen. Avigails Vater wirft sich auf sie, bevor er ebenfalls tödlich verwundet wird. Die beiden älteren Geschwister verstecken sich in einem Schrank, wo sie 14 Stunden ausharren, bevor sie gerettet werden.

Video: Vierjährige US-Geisel: Abigail sah Ermordung ihrer Eltern.
AFP

Avigail selbst krabbelt unter der Leiche ihres Vaters hervor und läuft zum Haus der Nachbarn – wo sie mit der gesamten Familie entführt wird. Am 27. November kommt sie als erste US-amerikanische Geisel frei. Avigail befindet sich nun in der Obhut ihrer Großeltern und Geschwister. In der Geiselhaft wurde sie vier Jahre alt.

Eitan Yahalomi (12)

Ein Bub im blau-gelben T-Shirt umarmt seine Mutter
Eitan Yahalomi trifft auf seine Mutter.
via REUTERS/ISRAELI DEFENSE FORC

Am 7. Oktober wird die gesamte Familie Yahalomi aus dem Kibbuz Nir Oz entführt. Die Mutter und beide Töchter können den Terroristen entkommen, der zwölfjährige Eitan und sein Vater werden getrennt in den Gazastreifen verschleppt. Am Montagabend kommt Eitan nach 52 Tagen frei.

Er sei von Zivilisten geschlagen und von der Hamas gezwungen worden, sich Videos des Massakers vom 7. Oktober anzusehen, berichtet seine Tante. "Jedes Mal, wenn ein Kind geweint hat, haben sie es mit einer Waffe bedroht, damit es still ist." Mehr als zwei Wochen lang soll der Zwölfjährige zudem allein festgehalten worden sein. Über den Verbleib seines Vaters ist bislang nichts bekannt. Er wird weiter in Geiselhaft vermutet.

Keren Munder (54) mit Ohad (9) und Ruth Munder (78)

Der neunjährige Ohad Munder ist wieder mit seiner Familie vereint.
via REUTERS/Schneider Children's

Am 23. Oktober wurde Ohad Munder Zichri neun Jahre alt. Statt mit seiner Familie und Freunden zu feiern, wird er zu diesem Zeitpunkt im Gazastreifen in Gefangenschaft der Hamas vermutet. Zwei Wochen zuvor nahmen die Hamas den Viertklässler zusammen mit seiner Mutter Keren Munder als Geisel, als sie die Großeltern im Kibbutz Nir Oz besuchten. Auch die Großmutter Ruth Munder wird entführt. Ohads Onkel überlebt den Anschlag nicht. Ein weiteres Familienmitglied, Avraham Munder, ist immer noch in Geiselhaft.

Itay Ravi, Avrahams Neffe, sagte gegenüber der BBC, die Freilassung einiger seiner Familienmitglieder sei ein Schritt in die richtige Richtung. Es sei aber immer noch “eine sehr, sehr schreckliche Realität, in der wir uns befinden".

Ditza Heimann (84)

Foto von Ditza Heimann
Am Tag ihrer Entführung telefonierte Ditza Heimann noch mit ihrer Familie.
REUTERS/SHIR TOREM

Als die Hamas den Kibbuz Nir Oz angriffen, war Ditza Heimann allein zu Hause. Sie hat 20 Enkelkinder und ist fünffache Urgroßmutter. Gegen zehn Uhr morgens habe sie noch mit ihrer Familie telefoniert, erzählt Heimanns Stiefsohn Amichai Shdaimah der "Times of Israel". Das war das letzte Mal, dass sie von ihr hörten. Als die Familie versucht, Heimann gegen 16 Uhr noch einmal zu erreichen, meldet sich eine männliche Stimme zu Wort und identifiziert sich als Mitglied der Hamas. "Da wussten wir, dass etwas Schreckliches passiert ist", berichtet Shdaimah.

Die Terrorgruppe filmt Heimanns Entführung, ein Nachbar beobachtet das Geschehen. Das sind die einzigen Hinweise auf den Verbleib Heimanns, die ihrer Familie seit dem Anschlag zur Verfügung stehen. Am Dienstag wurde sie freigelassen. In den frühen Morgenstunden aufgenommene Fotos zeigen, wie Heimann in einem Rollstuhl an Mitarbeiter des Roten Kreuzes übergeben wurde.

Emily Hand (9)

Kurz nach dem 7. Oktober geht ein CNN-Interview um die Welt. Es zeigt Thomas Hand, der über den vermeintlichen Tod seiner Tochter Emily berichtet. Er sei erleichtert gewesen über die Nachricht, dass seine Tochter tot sei, sagt Hand – angesichts der Bilder von Entführungen und Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Erst nach Wochen stellt sich heraus, dass die Neunjährige lebt. Gemeinsam mit ihrer Freundin Hila und deren Mutter, bei denen sie im Kibbuz Be'eri übernachtet hatte, war sie von der Hamas entführt worden. Mitte November kommen die Mädchen frei.

Beim Wiedersehen mit ihrem Vater flüstert Emily. "Ich musste mein Ohr an ihre Lippen legen", sagt Hand. "Sie war darauf konditioniert worden, keine Geräusche zu machen." Nun versucht er, seiner Tochter so etwas wie Normalität zu ermöglichen – und setzt sich für die Freilassung von Hilas Mutter ein, die im Gazastreifen zurückblieb. "Sie hat sich um die Mädchen gekümmert, als wären beide ihre Töchter."

Sharon Aloni Cunio (34) mit Emma und Yuli (3)

Zwei kleine Mädchen umarmen sich
Die Zwillinge Emma und Yuli.
AP

Die beiden dreijährigen Zwillinge Emma und Yuli gehören zu den jüngsten bisher freigelassenen Geiseln. Sie wurden aus dem Kibbuz Nir Oz zusammen mit ihren Eltern David und Sharon Cunio, ihrer Tante Danielle Aloni (44) und deren fünfjähriger Tochter Emilia entführt. Die beiden waren an dem Tag zu Besuch bei David und Sharon Cunio. Alle Frauen und Kinder wurden am 24. November freigelassen. Der Vater der beiden Zwillinge befindet sich jedoch weiterhin in Gaza.

Danielle Aloni mit ihrer Tochter Emilia bei ihrer Freilassung.
via REUTERS/Schneider Children's

Erez (12) und Sahar Kalderon (16)

Die Familie Kalderon aus dem Kibbuz Nir Oz zerbrach am 7. Oktober in mehrere Teile. Hadas Kalderon und ihre älteren Kinder konnten sich während des Angriffs in ihren jeweiligen Häusern verschanzen. Ihr Ex-Mann Ofer und die gemeinsamen Kinder Sahar (16) und Erez (12) flohen durch ein Fenster, als Terroristen in ihren Schutzraum eindrangen. Doch auf den Feldern rund um den Kibbuz wurden sie gefasst und in den Gazastreifen entführt. Auch die 80-jährige Großmutter und eine Cousine der Kinder wurden verschleppt. Ihre Leichen wurden an der Grenze zum Gazastreifen gefunden.

Ofer, Sahar und Erez blieben am Leben. Am 27. November werden die beiden Geschwister freigelassen. Ein Video zeigt ihre Mutter Hadas, wie sie in einem Einkaufszentrum am Telefon davon erfährt. Sie springt auf einen Tisch und ruft: "Es gibt einen Gott!" Ofer, ihr Ex-Mann und der Vater der Kinder, verbleibt weiterhin im Gazastreifen. (Helene Dallinger, Ricarda Opis, 30.11.2023)