Schülerinnen und Schüler in Schweden lernen das Alphabet.
In Schweden existiert seit Mitte der 1990er-Jahren ein weltweit einzigartiges Schulsystem: die Friskolor.
AP/David Keyton

Der Spielplatz ist noch im Umbau, aber der Fußballkäfig mit grünem Kunststoffboden wird schon bespielt, und auch die Fahne der International English School weht bereits vor dem renovierten Backsteingebäude, einer ehemaligen Polizeischule, im Stockholmer Speckgürtel.

Betritt man die 2021 geschaffene lokale Dependance der International English School (kurz IES) im Vorort Solna, muss man zunächst Name und Grund des Besuches notieren, vier Mitarbeiterinnen empfangen einen am Eingang – eine Sicherheitsmaßnahme, vor allem aufgrund der Probleme mit Bandenkriminalität in der Stadt.

Nach kurzer Zeit kommt Suzanne Gavin, Direktorin in schwarzen Sneakern und gelbem ärmellosen Kleid die Treppe hinunter. "Wir sind immer noch am Putzen, wie Sie sehen", sagt sie bei den ersten Schritten einer Führung im ersten Stock des Gebäudes wenig später.

Der Eingang der IES in Solna.
Konzern und Schule: die IES im schwedischen Solna.
STANDARD/Levin Wotke

Tatsächlich müsste man sich bemühen, in dem kahlen, von grauen Spinden gesäumten Gang einen Krümel zu finden. Kein Wunder, wenige Meter weiter erblickt Gavin ein Papierschnipsel, sie hebt es rasch auf und entschuldigt sich. Diese Reinlichkeit passt durchaus zum Ethos des privaten Schulträgers. "Wenn die Standards hoch bleiben, werden die Schüler sie auch erfüllen", sagt Gavin. Beim Blick in eine Klasse, die gerade einen Film ansieht, entdeckt sie einen Jungen, der mit über den Kopf gezogener Kapuze am Tisch lümmelt. "Ms Gavin", wie die aus Birmingham stammende Rektorin hier alle nennen, streicht sich symbolhaft selbst über ihr Haupt und der Schüler streicht sich sofort die Kapuze vom Kopf.

Öffentlich finanzierte Privatschule

Die IES ist nicht nur eine Schule, sondern ein vor gut 30 Jahren gegründeter Konzern, der in ganz Schweden rund 50 Schulen betreibt und dessen Gründerin Barbara Bergström zu einer der reichsten Frauen Schwedens gehört. Dennoch werden die Schulen großteils aus öffentlichen Geldern finanziert.

Möglich ist das dank einer in den 1990er-Jahren von der damals liberal-konservativen Regierung beschlossenen Novelle, die die Gründung sogenannter Friskolor, auf Deutsch Freischulen, möglich machte. Das sollte Eltern und Schülerinnen mehr Wahlfreiheit geben: Von nun an konnten sie nicht mehr nur die von der Gemeinde betriebenen Schulen auswählen, sondern sich ohne Mehrkosten auch für eine Freischule entscheiden.

Für jedes Kind stellt der Staat eine gewisse Summe an Schulgeld in Form eines Vouchers zur Verfügung, der der besuchten Schule zugute kommt – ob das Kind mit diesem Sack Geld aber eine öffentliche oder eine privat betriebene Friskola besucht, bleibt ihm und den Eltern überlassen. Dazu kommt: Die Freischulen dürfen sogar Gewinne erwirtschaften und diese an Aktionäre ausschütten. Die Idee klang verlockend: Bei einem derartigen Wettbewerb würden sich die besten Schulen durchsetzen, schließlich würden sie immer mehr Kinder und Jugendliche anziehen.

Knapp 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Schweden besuchen mittlerweile eine solche Freischule. Doch mittlerweile mehren sich die Skeptikerinnen. Ihre Kritik: Die privat betriebenen Schulen setzen auf aggressives Marketing und sprechen ein elitäres Publikum an, dass unter sich bleiben will, gespart wird aber bei Bibliotheken, bei Mensen oder auch beim Personal. So kommt der Gewinn zustande. Und nicht die besten Friskolor ziehen Schülerinnen an, sondern mitunter jene, die die besten Noten vergeben, die es den Schülerinnen also leicht machen.

Geflügel in der Pfanne

Sollte es den 800 Schülerinnen in Solna an etwas mangeln, so weiß das Rektorin Gavin während eines ausführlichen Rundganges gut zu verstecken: Durch schmale Glasfenster neben den Türen zu den Klassen kann man vom Gang aus den Unterricht beobachten. In einem Raum hat eine Klasse Hauswirtschaft, Schüler eilen in einheitlich bedruckten Schürzen umher, während auf dem Herd ein Stück Geflügel in der Pfanne brutzelt, das Musikzimmer der Schule ist mit zahlreichen Keyboards, Gitarren und Bässen ausgestattet, in der Bibliothek schwärmt Gavin von der ausgebildeten Bibliothekarin, und der Werkraum im Keller kann mit Kreissägen und 3D-Drucker aufwarten. Sie hat die notwendigen Ressourcen, um den Schülern im Alter von zehn bis 15 Jahren alles bieten zu können, was sie brauchen.

Und doch gibt es immer wieder Vorfälle an Freischulen, die das System infrage stellen. Erst im April wurden Details aus aufgezeichneten Gesprächen zwischen Lehrern und dem Rektor eines Gymnasiums in Stockholm bekannt, in dem dieser die Gehälter mit guter Notengebung verbinden wollte. Der Schulträger Thorengruppen fiel bereits mehrmals mit Sicherheitsmängeln und unqualifiziertem Personal auf, nun darf die Gruppe keine neuen Schulen mehr eröffnen und musste bereits eine (umgerechnet in Euro) fünfstellige Geldstrafe bezahlen.

Schülerin an einer Friskola in Schweden.
Die Freischulen Schwedens rühmen sich, den Schülern mit guten Ressourcen aufwarten zu können. Im Bild eine Schülerin an einer Friskola in Schweden.
APA/AFP/JONATHAN NACKSTRAND

Auch beim IES-Konzern gibt es problematische Tendenzen: In einer Umfrage der Gewerkschaft gaben über 100 Lehrkräfte an, dass die Schulleitung sie unter Druck setzte, ihre Noten abzuändern. Rektorin Gavin sagt auf Nachfrage, in der von ihr in Solna gegründeten Schule würden Lehrkräfte geschult, um mit Fragen und Druck von Eltern umzugehen und ihre Notengebung zu rechtfertigen, die Schulleitung mische sich aber nicht in die Benotung einzelner Lehrer ein.

Schulgeld fließt in Steueroasen

"Das Problem, das wir gerade diskutieren, ist, dass diese Schulen mitunter nicht nur privat, sondern börsennotiert sind und wir keine Ahnung haben, wo das Geld hinfließt", sagt Peter Letmark. Der Journalist berichtet seit Jahren für die Tageszeitung "Dagens Nyheter" über die Skandale rund um das Problem der Freischulen und hat jüngst ein Buch darüber veröffentlicht.

Er kritisiert nicht nur Mängel an einzelnen Schulen, sondern das System: Steuergeld fließe mitunter in Unternehmen, die ihren Sitz in Luxemburg oder Delaware haben und auch haben dürfen. Academedia, der weitaus größte Player in der Branche wird heuer wohl knapp 200 Millionen schwedische Kronen, also mehr als 17 Millionen Euro, an Aktionäre ausschütten.

Gewinn durch Größe

Doch wie können die Schulträger Gewinne verzeichnen, wenn sie doch im Wesentlichen dieselben Leistungen erbringen müssen wie Gemeindeschulen? Johan Ernestam beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Thema. Der Politikwissenschafter arbeitet für die schwedische Lehrergewerkschaft, er wurde von der bis Herbst 2022 amtierenden sozialdemokratischen Regierung zum Vorsitz für eine Untersuchung des Friskolor-Systems eingesetzt, nach dem Wechsel zu einer liberal-konservativen Regierung wurde er jedoch ausgewechselt.

Ernestam – graumelierter Bart, Jeans, Sneaker und Socken mit lachenden Fröschen – schildert in einem der modernen Konferenzräume der Lehrergewerkschaft in der Stockholmer Innenstadt die Entstehung des aktuellen Schulsystems. In den 1990er-Jahren hatte es die Regierung aufgrund der damals noch dreijährigen Legislaturperioden eilig, die Reform durchzupeitschen, und setzte nicht wie üblich vor derartigen Umwälzungen zunächst eine Untersuchungskommission ein. Erst jetzt, 30 Jahre später, sei man dabei, die Fehler von damals zu verstehen, so Ernestam.

Mehr Schüler, mehr Profit

Dazu gehört auch, wie Freischulen ihren Gewinn erwirtschaften. "Es gibt zwei Möglichkeiten: Die einen betreiben Schulen gerade noch an der Grenze dessen, was das Schulinspektorat akzeptiert – und die anderen schaffen es durch ihre Größe", sagt Ernestam.

Er nimmt einen schwarzen Marker in die Hand und zeichnet eine Grafik auf eine hinter ihm hängende Tafel zur Illustration des schwedischen Systems. Egal ob 50 oder 500 Schüler eine Schule besuchen: Die Summe pro Kind bleibt gleich. In Dänemark und Norwegen, wo es auch Friskolor gibt, sinkt dagegen der Betrag pro Schüler mit der Anzahl der Schülerinnen.

In Schweden können also große Freischulen, umso mehr Schülerinnen sie haben, umso mehr Profit einstreichen. Den 501. Schüler in einer Schule unterzubringen kostet bei weitem nicht so viel, wie der 51. Schüler gekostet hat.

Zielgruppe: Kinder reicher Familien

Aber es gibt auch noch einen weiteren Faktor. Gemeindeschulen müssen Kinder aufnehmen und daher regelmäßig schrumpfen oder wachsen, je nachdem ob Schülerinnen zu Freischulen abwandern oder wieder zurückkommen. Freischulen aber können ein Limit setzen, ab dem sie voll sind, und sind diesem andauernden Anpassungsdruck, der auch Geld kostet, nicht unterworfen. Was sie sich dadurch ersparen, fließt ihrem Gewinn zu.

Die Werbung vieler Freischulen ziele außerdem auf ein elitäres Publikum ab, "affluent" wie Ernestam es nennt. Englischsprachiger Unterricht sei etwa wenig attraktiv für Kinder, die womöglich noch Probleme mit der schwedischen Sprache haben – und dadurch extra Aufmerksamkeit benötigen. So sammelt sich an Freischulen ein elitäres Publikum, das auch weniger personelle Unterstützung brauche und somit günstiger sei. Auch die mitunter äußerst guten Ergebnisse der Freischulen seien unter diesem Blickwinkel zu betrachten, argumentiert Ernestam.

Rund 1.000 Freischulen in Schweden

Ulla Hamilton sieht dies naturgemäß anders. Die ehemalige Stadträtin Stockholms trägt einen hellgrünen Hosenanzug, an dessen Kragen ein Anstecker der ukrainischen Flagge steckt. Seit 2015 ist Hamilton CEO des Friskolornas Riksförbund und vertritt damit die Interessen der rund 1.000 Friskolor im ganzen Land. 95 Prozent der Schulen in Schweden seien kleine Schulen, ein Drittel habe weniger als 100 Schülerinnen und Schüler, widerspricht sie in der Zentrale des Verbundes dem Narrativ von den profitgetriebenen Großkonzernen.

"Ich glaube, wir haben in Schweden ein gutes System, weil Kinder aus reichen wie Kinder aus armen Familien einen Platz in einer Freischule bekommen können", sagt Hamilton. Das sei in anderen Ländern nicht möglich. Rund 85 Prozent der Grundschulen, die man in Schweden vom siebenten bis zum 16. Lebensjahr besucht, sind öffentliche Schulen, es ginge also ohnehin nicht um die Mehrheit der Schulen.

Schulministerin will eingreifen

Die Freischulen entstanden aber aus einem ganz konkreten Bedürfnis nach guter Bildung, schildert Hamilton. In den 1990er-Jahren hatten manche das Gefühl, in den Schulen ging es mehr darum, andere Kinder zu treffen und soziale Kompetenzen zu erarbeiten, Noten waren nicht so wichtig, erzählt Hamilton. Viele Schwedinnen und Schweden wünschten sich aber Schulen, die darauf fokussiert waren, konkretes Wissen zu vermitteln. Dass Freischulen unter diesen Vorzeichen eine Alternative bieten, spornt auch öffentliche Schulen an, ist Hamilton überzeugt. Und auch für Gewinne für Gesellschafter zeigt sie Verständnis, diese hätten schließlich ein Recht darauf, ihr investiertes Geld zurückzubekommen. Und hohe Gewinne entstünden durch die festgelegte Summe pro Voucher so oder so nicht.

Schulministerin Lotta Edholm bei einer Pressekonferenz.
Schwedens Schulministerin Lotta Edholm.
IMAGO/Jessica Gow/TT

Mittlerweile hat aber auch die für Schulen zuständige Ministerin Lotta Edholm von der Liberalen Partei angekündigt, die Kostenerstattung für Friskolor grundlegend reformieren zu wollen: Die Schulen sollen nur jene Kosten ersetzt bekommen, die bei ihnen tatsächlich anfallen, erklärte sie Anfang November, nun ist abzuwarten, wie die Umsetzung aussehen wird.

Ein Käsebrot und Kaffee

Das St.-Ragnhild-Gymnasium in Södertälje im Südwesten Stockholm liegt einen Steinwurf von der S-Bahn-Station entfernt. An einem Wochentag um die Mittagszeit hört man hier nur ein paar Vögel zwitschern, wenn man auf den Bahnsteig tritt. In dem langgezogenen hellblau gestrichenen Gebäude ist die Stimmung grundverschieden zu der in der IES in Solna. Auf zwei Stockwerken werden hier 250 Schüler von 16 Lehrerinnen unterrichtet – nicht alle arbeiten Vollzeit.

Auch Ragnhild ist eine Friskola, aber hier wird alles in die Stiftung, die die Schule betreibt, gesteckt, ausgeschüttet wird nichts. "Die Leute im Vorstand kriegen bei der Sitzung ein Käsebrot und 'nen Kaffee, das war's", sagt die deutsche Vizerektorin Britta Müller im Gespräch – sie verdienen nichts. Durch die kleine Zahl an Schülerinnen ist die Stimmung in der Schule familiär, die Lehrer werden mit Vornamen angesprochen, so steril wie in Suzanne Gavins IES-Schule in Solna sieht es hier nicht aus. Denn während es bei manchen profitorientierten Schulen darum gehe, dass jede Filiale gleich aussehe, könne man hier auch als Lehrerin die Schule mitgestalten, heißt es.

Was ist aber – ohne jeglichen Profit und mit ehrenamtlichen Posten – die Motivation, eine solche Friskola wie Ragnhild zu gründen? Eine Antwort darauf gibt wiederum Gewerkschafter Ernestam: "Vielleicht einfach, eine gute Schule zu gründen." (Levin Wotke aus Stockholm, 2.12.2023)