Selenskyj und Von der Leyen begrüßen sich
Ein Spaziergang würde der Ukraine-Beitritt nicht werden. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wollen jedenfalls verhandeln.
AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS

Das Vorhaben klingt verwegen. Die EU-Kommission will die Ukraine schon in wenigen Jahren in die Union aufnehmen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am 8. November vorgeschlagen, Beitrittsverhandlungen mit dem Land aufzunehmen. Bei ihrem Gipfel Mitte Dezember in Brüssel werden die EU-Staaten entscheiden, ob Kiew grünes Licht für Verhandlungen bekommt.

Als Datum für einen Beitritt steht schon das Jahr 2030 im Raum. Die Kluft, die dafür überwunden werden müsste, ist freilich gewaltig. In der Ukraine tobt infolge des russischen Überfalls seit bald zwei Jahren Krieg. Das Land ist riesig und bitterarm. Die Fläche des Staates mit seinen 43 Millionen Einwohnern ist doppelt so groß wie jene Polens. Kaufkraftbereinigt verdienen die Menschen im Schnitt gerade einmal 500 Euro im Monat. Selbst in Albanien ist es mehr. Korruption ist weit verbreitet, laut Zahlen der Weltbank hat sogar der Kosovo die Schattenwirtschaft besser im Griff als die Ukraine.

Setzt die EU hier also nur eine symbolische Geste in Richtung eines kriegsgebeutelten Landes, das sowieso nie in die Union kommt? Mag sein. Doch gerade haben die deutsche Bertelsmann-Stiftung und das Wiener Forschungsinstitut WIIW einen Bericht dazu veröffentlicht, wie groß die Chancen der Ukraine wirklich sind, jemals Teil der Europäischen Union zu werden.

Zwiegespaltene Ausgangslage

Die ökonomische und soziale Ausgangslage für Kiew ist gar nicht so schlecht, wie es scheint, lautet das überraschende Ergebnis des Papers. Die Experten haben verglichen, wie groß die Kluft zwischen der EU und der Ukraine heute ist im Vergleich zur Divergenz zwischen der Union und den elf osteuropäischen Ländern, die der EU zwischen 2004 und 2013 beigetreten sind. Dabei zeigt sich, dass die Ukraine kein außergewöhnlicher Fall ist.

In puncto Wohlstand und Einkommen etwa ist das Land heute auf dem gleichen Niveau wie einst Lettland und Rumänien, als diese Staaten der EU 2004 und 2007 beitraten. Würde die Ukraine morgen Mitglied werden, würde die Bevölkerung in der EU um neun Prozent wachsen. Das entspricht genau der Zunahme infolge des polnischen Beitritts. Die Wirtschaft der Ukraine schließlich ist heute gemessen an der EU etwa so groß wie jene Ungarns, als es aufgenommen wurde.

Grafik
Handel der Ukraine mit der EU und monatliche Bruttoeinkommen im europäischen Vergleich.
Der Standard

So weit die Theorie. In der Praxis freilich tobt bereits jetzt ein wirtschaftspolitischer Verteilungskampf zwischen der Ukraine und mehreren EU-Ländern.

Augenscheinlich werden diese Spannungen derzeit an der polnisch-ukrainischen Grenze. Seit Anfang November blockieren polnische Fuhrunternehmen mit ihren Lkws den Güterverkehr zur Ukraine. Durchgelassen werden an der Grenze nur Busse, Waffenlieferungen und humanitäre Güter. Vor einem der Übergänge bei der polnischen Ortschaft Dorohusk standen laut Polizei 750 Lkws in einer 18 Kilometer langen Schlange auf ukrainischer Seite. Abfertigungszeit: fünf Tage.

Die Fahrer protestieren dagegen, dass Lkws aus der Ukraine freie Fahrt in die EU haben, um Lieferungen aus dem Land in die Union und wieder zurück zu bringen. Ihnen angeschlossen haben sich Landwirtinnen und Landwirte, die sich durch billige Getreideimporte aus der Ukraine bedroht fühlen.

Polnische Lkw-Fahrer blockieren die Grenze zur Ukraine.
Polnische Lkw-Fahrer blockierten jüngst aus Protest die Grenzübergänge.
EPA/Wojtek Jargilo

Streit übers Getreide

Ausgangspunkt des Streits ist die Marktöffnung für die Ukraine. Als Russland das Land überfiel, kippte die EU die bestehenden Handelsbeschränkungen. Zölle und Mengenbeschränkungen für Importe aus der Ukraine fielen. Auch ukrainische Spediteure bekamen freie Fahrt in die EU. Weil Russland zeitgleich die Exporte aus ukrainischen Häfen zum Erliegen brachte, nahmen die Ausfuhren von Agrarprodukten über den Landweg in die EU stark zu. Die Menge an ukrainischen Weizen verzehnfachte sich binnen eines Jahres. Bei Mais gab es eine Verdoppelung. Bei Pflanzenölen stiegen die Verkäufe in die Union um ein Drittel. So kristallisiert sich die Landwirtschaft als wirtschaftlich heikelster Punkt bei einem EU-Beitritt des Landes heraus.

Das wird auch in Österreich so gesehen. "Wir waren von der Ankündigung der Frau EU-Kommissionspräsidentin einigermaßen überrascht", sagt Ferdinand Lembacher, Generalsekretär der Landwirtschaftskammer, im Hinblick auf mögliche Beitrittsgespräche mit Kiew. Er sieht die heimische Landwirtschaft durch einen übereilten und nicht gut geplanten Beitritt der Ukraine bedroht. Und das hat politisches Gewicht in Österreich, die Kammer ist mit der ÖVP verzahnt.

Video: Anfang November empfahl die EU-Kommission den Mitgliedsländern die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine.
AFP

Konkurrenz bei Förderungen

Warum diese Skepsis? Zum einen, weil die Ukrainer auf den Märkten Mitbewerber der österreichischen Bauern sind. Rund die Hälfte der agrarischen Nutzflächen in Österreich dient dem Ackerbau, angebaut werden vor allem Weizen und Mais. Da liegen auch die Stärken der Ukraine. Österreichs Weizen wird zu einem guten Teil exportiert, Italiens Nudelindustrie ist ein großer Abnehmer. Indem die Ukraine große Mengen Weizen nach Europa bringt, steigt der Angebotsdruck, sagt Lembacher. Ebenso sei es bei Mais und Zuckerrüben. Die Ukraine holt auch bei Eiern und Geflügel auf.

Die größere Angst der Bauern ist freilich, dass durch die Erweiterung der EU das bisherige System der Agrarförderungen kollabiert.

Ein Teil der Agrarsubventionen besteht aus Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe. Im Wesentlichen wird Fläche gefördert. Ukrainische Betriebe verfügen oft über 20.000 bis 40.000 Hektar, sagt Lembacher. In Österreich sind es 20 bis 40. Laut einer Analyse der EU-Kommission hätte die Ukraine, wenn das Land schon in der EU wäre, bis zum Jahr 2027 Anspruch auf 186 Milliarden Euro, 96,5 Milliarden allein aus EU-Agrar-Fördertöpfen. Die Subventionen für Landwirte in anderen Staaten müssten um ein Fünftel gekürzt werden, um diese Summe zu stemmen, berichtete die Financial Times mit Verweis auf das Papier. Dazu käme noch der Verlust von Förderung für ländliche Regionen, wenn das Geld an die Ukraine geht. "Ohne die Zahlungen aus Brüssel droht vielen heimischen Landwirten das Aus bzw. könnte die kleinbetriebliche Struktur nicht aufrechterhalten werden", sagt Lembacher. Eine Alternative gibt es: Länder, die derzeit Geld von Brüssel erhalten, könnten zu Nettozahlern werden. Aber ob das politisch machbar ist?

An dem Papier der Kommission, das nicht veröffentlicht wurde, gibt es auch Kritik. Das Centre for European Policy Studies, ein Brüsseler Thinktank, rechnet vor, dass es reichen würde, wenn bestehende Zahler ihre Beiträge ins EU-Budget um zehn Prozent erhöhten. Damit wären genug Mittel für die Ukraine da. Nur Spanien müsste vom Nettoempfänger zum Nettozahler werden.

Die Ökonomin Olga Pindyuk vom WIIW wendet ein, dass die Sorgen bei EU-Landwirten generell überzogen sind. Die Weizenimporte aus der Ukraine entsprechen aktuell gerade 4,6 Prozent der EU-Weizenproduktion. Der Preis für Weizen und Mais werde zudem überwiegend auf globalen Märkten bestimmt. Die Ukraine werde auf Dauer keinen großen Preisvorteil bei Agrarprodukten haben.

Scheitert Kiews EU-Beitritt an den Bauern?

Billige Arbeitskräfte

Ob das die Landwirte beruhigen kann, ist fraglich. Dazu kommen andere wirtschaftliche Spannungsfelder. Etwa am Arbeitsmarkt. Dass zehntausende Menschen die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzen und im Westen Jobs suchen, war schon die große Angst, als Polen, Tschechien und Co in die Union kamen. Allerdings gibt es hier erprobte Instrumente, etwa Übergangsfristen bei der Arbeitsmarktöffnung, wie sie Österreich nutzte.

Außerdem ist die Situation heute anders als bei der bisherigen EU-Osterweiterung. In den alternden Gesellschaften Europas herrscht ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. In Ländern wie Österreich und Deutschland wurden die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine deshalb auch von der Wirtschaft mit offenen Armen empfangen. Das Problem mit einer Arbeitsmarktöffnung hat diesmal vermutlich eher die Ukraine: Das Land kämpft mit einem rasanten Bevölkerungsschwund. Seit 1996 ging die Bevölkerung um rund zwanzig Prozent zurück. Der Krieg verschlimmert die Situation. Tausende Männer kämpfen oder wurden getötet. 6,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer flüchteten aus ihrer Heimat, die meisten davon in andere europäische Staaten.

Solange das Lohngefälle so groß bleibt, wird es jedenfalls weiterhin Wirtschaftssektoren geben, die eine schnelle Marktöffnung bekämpfen. Die Lkw-Fahrer in Polen sind da vielleicht nur der Anfang. (András Szigetvari, Jakob Pflügl, 1.12.2023)