Mit einem Plebiszit bekräftigt Venezuela am Sonntag seinen Anspruch auf mehr zwei Drittel des Staatsgebietes von Guyana, der ehemals britischen Kolonie am Ostzipfel Südamerikas. Die sogenannte Esequibo-Region, benannt nach dem größten Fluss Guyanas, ist eine extrem diverse, noch weitgehend vom Menschen unberührte Gegend mit tropischen Wäldern, wasserreichen Savannen und Tafelbergen. Dort leben vor allem Indigene. Geostrategisch interessant ist sie, weil sich dort Öl, seltene Erden, Bauxit, Mangan, Diamanten und Goldvorkommen befinden.

Guyana Esequiba: von Venezuela beanspruchtes Gebiet, das Teil von Guyana ist.
Der Standard

Präsident Nicolás Maduro fordert die Venezolaner auf, zu allen Fragen, insgesamt sind es fünf, "Ja" zu sagen. Darin wird unter anderem vorgeschlagen, einen venezolanischen Staat im Gebiet Esequibo zu gründen und den Bewohnern die venezolanische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Die jedoch leben weitgehend autark und wollen im Zweifelsfalle lieber Guyaner bleiben – vor allem, weil Guyana den Indigenen großzügige Autonomierechte gewährt. Guyanas Regierung kritisierte das Referendum als “Handbuch einer Annektion". Unterstützt wird Guyana in dem Konflikt von der karibischen Staatengemeinschaft (Caricom) und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).

Karten Venezuelas zeigen das Land auf Werbebemalungen für das Referendum bereits samt Region Esequibo.
AFP/FEDERICO PARRA

Der Konflikt geht zurück auf eine unklare Grenzziehung zwischen den Kolonialmächten Großbritannien und Spanien. Georgetown verteidigt eine Grenze, die auf Betreiben der USA 1899 von einem Schiedsgericht festgelegt wurde. Caracas argumentiert, dass der Fluss die natürliche Grenze sei, so wie es 1777 der Fall war, als Venezuela noch Generalkapitanat des spanischen Reiches war. Es beruft sich auf das Genfer Abkommen, das 1966 vor der Unabhängigkeit Guyanas vom Vereinigten Königreich unterzeichnet wurde und das den früheren Schiedsspruch aufhebt und die Grundlage für eine Verhandlungslösung schafft.

Wenig Interesse – bis jetzt

Jahrzehntelang interessierte sich Venezuela nicht besonders für die Dschungelregion. Besonders der sozialistische Expräsident Hugo Chávez war mehr an guten nachbarschaftlichen Beziehungen interessiert, um seinen regionalen Führungsanspruch zu zementieren. Er exportierte verbilligtes Erdöl nach Guyana, damals ein äußert armes Land. Die venezolanische Opposition kritisierte Chávez Nachlässigkeit. Erst unter Maduro, und als es mit Venezuela wirtschaftlich bergab ging, gab es wieder Gespräche über den Esequibo. Die verliefen jedoch ergebnislos.

In dem dich bewaldeten Gebiet soll nach dem Wunsch der Regierung Guyanas bald die Ölförderung beginnen.
AP/Juan Pablo Arraez

Guyana rief nach ersten Erdölfunden 2018 den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag an und forderte die Richter auf, den Grenzbeschluss von 1899 für gültig und verbindlich zu erklären. Der IGH nahm den Fall an, obwohl Venezuela die Zuständigkeit des Gerichts bestreitet. Ein Urteil dürfte jedoch erst in einigen Jahren ergehen. Im Vorfeld des Referendums forderte der IGH Maduro auf, den Konflikt nicht zu verschärfen und erklärte, das Plebiszit habe keinerlei juristische Wirkung. Dennoch beharrt Maduro darauf. Denn der Anspruch auf die Esequibo-Region, eint die Venezolaner, egal welcher politischen Couleur. Für Maduro ein willkommenes Ventil, um von seinen derzeitigen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Oppositionsführerin Maria Corina Machado rief dazu auf, das Plebiszit zu suspendieren. Es handele sich um ein Ablenkungsmanöver, das der Sache schade.

Futter für Nationalisten

Maduro verwaltet eine korrupte staatliche Mangelwirtschaft und verliert zusehends Rückhalt, auch in den eigenen Reihen: Die internationalen Sanktionen setzen seinem Regime wirtschaftlich stark zu, und es fließt nicht mehr genug Geld, um seine korrupte Kamarilla zufriedenzustellen. Die notleidende Bevölkerung hat sich derweil auf die größte Völkerwanderung der neuzeitlichen Geschichte Lateinamerikas gemacht. Rund acht Millionen Venezolaner flohen in den vergangenen zehn Jahren vor Hunger, Repression und Unsicherheit. Die internationale Gemeinschaft, allen voran die USA und die Europäische Union, verlangen transparente und faire Wahlen im kommenden Jahr, um die Sanktionen aufzuheben. Doch eine solche Wahl würde Maduro laut Umfragen höchstwahrscheinlich verlieren.

"Fünf mal Ja" fordert Präsident Nicolás Maduro (nicht im Bild) von den Wählerinnen und Wählern.
EPA/MIGUEL GUTIERREZ

In den Konflikt mit Guyana könnten auch die USA mit hineingezogen werden. Denn der US-Ölkonzern ExxonMobil fördert an der Spitze eines Konsortiums in der umstrittenen Region seit 2018 Öl und hofft, sich weitere Konzessionen zu sichern. Bis 2035 könnte das Land rund 1,7 Millionen Barrel Öl täglich fördern. Weil diese Ölkonzessionen äußerst intransparent und unvorteilhaft für Guyana sind, bezeichnet Maduro Guyanas Präsidenten Irfaan Ali als "Sklave von ExxonMobil". Der wiederum entgegnete, er erwäge den Bau von US-Militärbasen an der Grenze. Die Eskalation beunruhigt auch das Nachbarland Brasilien. Dessen Militär verstärkte am Wochenende seine Truppen an der gemeinsamen Grenze im Dreiländereck. (Sandra Weiss, 3.12.2023)