Viele Schwule und Lesben hatten es nach der jüngsten Gesetzesverschärfung befürchtet. Und es kam schlimmer als gedacht: Gegen 22 Uhr Freitagnacht begannen die Razzien in den Moskauer Schwulenclubs. "Mitten in der Party stoppten sie die Musik und die Polizei begann, in die Hallen einzudringen", zitiert die Zeitung "Nowaja Gaseta" einen Augenzeugen. Als die Uniformierten den Club stürmten, hätten dort rund 300 Personen gefeiert, so die Zeitung.

Aktivisten hatten sich vergangene Woche vor Russlands Obersten Gericht versammelt – dieses entschied, die "internationale LGBT-Bewegung" sei als extremistisch einzustufen. Was damit genau gemeint ist, bleibt offen.
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Vorgeblich suchte die Polizei in den großen Moskauer Clubs nach Drogen, wie russische Medien und soziale Netzwerke berichten. Es habe auch Festnahmen gegeben. Angeblich mussten sich manche Besucher bis auf die Unterhose ausziehen. Von der Polizei, die laut Augenzeugen auch Pässe, darunter von Ausländern, fotografiert haben soll, gab es zunächst keine Stellungnahme.

Die Razzien in den Schwulenclubs sind möglicherweise die ersten Auswirkungen einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Russlands vom vergangenen Donnerstag. Das Gericht hatte einem Antrag des Justizministeriums stattgegeben, "die internationale öffentliche LGBT-Bewegung als extremistische Organisation anzuerkennen und ihre Aktivitäten in Russland zu verbieten". Sprich: Wer sich für die Rechte sexueller Minderheiten und Menschen unterschiedlicher Geschlechteridentität einsetzt, gilt nun als "extremistisch".

Unklare Formulierungen

Dieses Vorgehen war von Menschenrechtlern bereits im Vorfeld heftig kritisiert worden. Die Richter hätten nicht einmal klargestellt, wer genau in ihren Augen der "LGBT-Bewegung" angehört. "Welche Art von "LGBT-Bewegung" ist vom Obersten Gerichtshof verboten worden?", fragt etwa das unabhängige Online-Portal "Meduza". Und beantwortet die Frage gleich selbst: "Wir wissen es nicht." Unter Berufung auf Anwälte schreibt "Meduza", dass nun höchstwahrscheinlich alle Menschen in Russland gefährdet seien, die offen schwul oder lesbisch leben würden. Kritisiert wurde zudem, dass die Gerichtsverhandlung gerade einmal vier Stunden dauerte und hinter verschlossenen Türen abgehalten wurde.

In Russland sind Lesben, Schwule, Transpersonen und Bisexuelle seit Jahren einer zunehmenden politischen Verfolgung ausgesetzt. Schon seit rund einem Jahr ist per Gesetz jegliche "Propaganda" für "nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen" verboten. Zuvor war dies nur in Sachen Minderjähriger untersagt. Jetzt gilt es allgemein. Dadurch soll die "intellektuelle, moralische und mentale Sicherheit der Gesellschaft" gewährleistet werden. Aktivistinnen und Aktivisten der LBGTIQ-Community waren entsetzt. Durch ein derartiges Verbot kann jeder ihrer Internet-Auftritte, jede Publikation unter Strafe gestellt werde. Auch Bücher, in denen es um homosexuelle Beziehungen geht, könnten verboten werden, so Befürchtungen aus der russischen Literaturszene.

Tabu in Russland

Nun geht es weiter: Ein Gericht in Sankt Petersburg verurteilte am Freitag einen Musik-Fernsehsender zur Zahlung einer Strafe von über 5.000 Euro, weil er ein Video des bekannten russischen Popstars Sergej Lasarew mit einer Szene voller Zärtlichkeit zwischen zwei Frauen gezeigt hatte. Das Video zu dem Song "Tak krassiwo", auf Deutsch: "So schön", verstieß nach Auffassung des Gerichts gegen das Gesetz, das öffentliche Darstellungen gleichgeschlechtlicher Liebe unter Strafe stellt.

Homosexualität ist in Russland zwar nicht verboten, wird aber weitgehend tabuisiert. Und: Die russische Gesellschaft ist mehrheitlich homophob. Homosexualität galt in Russland bis 1993 als Verbrechen. 74 Prozent aller Russen glaubten noch 2011, Homosexualität sei eine Perversion oder eine Geisteskrankheit. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts vom Oktober2021 sind 69 Prozent der Bevölkerung gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen.

Die Diskriminierung von Menschen anderer Sexualität als der traditionellen hat durchaus auch einen politischen Hintergrund. Russlands Präsident Wladimir Putin versteht sich als Vorkämpfer gegen den westlichen Liberalismus. Manche Kommentatoren hingegen sprechen von einer "Iranisierung" Russlands. Menschenrechtler beklagen, dass Gewalt gegen Homosexuelle oder auch Mordaufrufe für die Täter immer wieder folgenlos bleiben. "Dies ist das repressivste und grausamste Gesetz der letzten Jahre", schreibt die Journalistin Ksenja Sobtschak laut dem Online-Medium Osnmedia.ru auf ihrem Telegram-Kanal. Nicht nur sie befürchtet, dass noch mehr Menschen Russland für immer verlassen werden. Aus Angst vor Repressionen, aus Angst um ihr Leben. (Jo Angerer aus Moskau, 3.12.2023)