Beispiel für eine gut lesbare Keilschrifttafel aus der Frühzeit der Schriftentwicklung. Die Tafel stammt aus dem sumerischen Nippur (heute Irak) und wurde vor rund 4.200 Jahren beschrieben.
Foto: Mary Harrsch

Die ersten Schriftzeichen der sumerischen Hochkultur im Süden Mesopotamiens wurden vor über 4.500 Jahren mit Schilfrohr- oder Holzgriffeln in feuchten Ton gedrückt. Diesem für Jahrtausende bevorzugten Medium ist es zu verdanken, dass von dem frühen Schrifttum bis heute vergleichsweise viel erhalten geblieben ist: Getrocknet ist Ton ein sehr dauerhafter Schriftträger.

Doch gänzlich unbeeindruckt sind die Schrifttafeln vom Zahn der Zeit auch nicht. Weltweit gibt es Schätzungen zufolge etwa eine Million solcher Tafeln, der Großteil davon freilich unübersetzt. Das liegt zum einen an den fehlenden Ressourcen, zum andern aber auch an ihrem schlechten Zustand, der es selbst den geübten Augen fallweise fast unmöglich macht, sie zu entziffern. Erschwert wird dies noch von der Tatsache, dass das Schriftsystem sehr komplex war und für viele Sprachen benutzt wurde.

3D-Scans statt Fotos

Um die Zeichen richtig zu deuten, sind also nicht nur optimale Lichtverhältnisse, sondern auch viel Hintergrundwissen nötig – das klingt nach einer Aufgabe, die eine künstliche Intelligenz (KI) gut bewältigen könnte. Tatsächlich hat ein Forschungsteam von der Universität Halle-Wittenberg (MLU), der Hochschule Mainz und der Universität Mainz nun eine KI vorgestellt, die schwer zu lesende Texte auf Keilschrifttafeln mit hoher Trefferquote entschlüsseln kann.

Statt Fotos nutzt die KI 3D-Modelle der Tafeln und liefert deutlich zuverlässigere Ergebnisse als bisherige Methoden. So sei es möglich, den Inhalt vieler Tafeln zu durchsuchen und miteinander zu vergleichen", meint die Gruppe. "Bislang ist der Zugriff auf den Inhalt der Keilschrifttafeln schwierig – man muss schon genau wissen, wonach man wo sucht", erklärte Hubert Mara von der MLU.

Eine frisch beschriebene Tontafel. Getrocknet, im Idealfall sogar gebrannt überdauert ein solches Schriftstück in der Wüste Jahrtausende.
Foto: REUTERS/Teba Sadiq

OCR für Keilschrift

Die Forscher nutzten für ihren neuen Ansatz 3D-Modelle von knapp 2.000 Keilschrifttafeln, darunter etwa 50 aus einer Sammlung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die eingesetzte KI arbeitet so ähnlich wie eine herkömmliche OCR-Software (Optical Character Recognition), die auf Bildern Schrift und Text erkennt.

Diese Vorgehensweise hat einige Vorteile: Einmal in Computertext umgewandelt, lässt sich die Schrift leichter lesen und ist zugleich durchsuchbar. "OCR arbeitet in der Regel mit Fotografien oder Scans. Für Tinte auf Papier oder Pergament ist das kein großes Problem mehr", sagt Ernst Stötzner von der MLU. "Bei Keilschrifttafeln ist die Sache aber schwieriger, da das Licht und der Betrachtungswinkel einen großen Einfluss darauf haben, wie gut bestimmte Zeichen zu erkennen sind."

Als Trainingsgrundlage für die neue KI dienten dreidimensionale Scans und zusätzliche Angaben, die zu großen Teilen von der Universität und der Hochschule Mainz zur Verfügung gestellt wurden. Dort ist die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte "Digitale Edition der Keilschrifttexte aus Haft Tappeh" angesiedelt.

Die 3D-Scans der Keilschrifttafeln bildeten die Lerngrundlage für die KI.
Foto: Uni Halle / Maike Glöckner

Prototyp mit Zukunft

Nach der Lernphase gelang es der KI, die Schriftzeichen auf den Tafeln zuverlässig zu erkennen. "Überraschenderweise funktioniert unser System sogar sehr gut bei Fotografien, die eigentlich ein schlechteres Ausgangsmaterial darstellen", sagt Stötzner. Die Arbeit der Forscher aus Halle und Mainz eröffnet einen neuen Zugang zu einem bislang eher exklusiven Material und damit auch zu vielen neuen Forschungsfragen.

Bisher handelt es sich dabei um einen Prototyp, der Schriftzeichen von zwei Sprachen zuverlässig erkennt. Insgesamt sind aber mehr als ein Dutzend Keilschriftsprachen bekannt. Perspektivisch könnte die Software auch dabei helfen, verwitterte Inschriften zum Beispiel auf Friedhöfen zu erkennen, die wie die Keilschrift dreidimensional angelegt sind. (tberg, red, 4.12.2023)