In der Nacht von Sonntag auf Montag hat es rund 60 Kilometer vor Istanbul ein Erdbeben der Stärke 5.1 gegeben. Das Zentrum lag an der Südküste des Marmarameers bei Yalova. Nach ersten Meldungen kam es weder zu Personen- noch zu Sachschäden. Allerdings war das Beben für etliche Bewohner Istanbuls und der Großstadt Bursa südlich des Marmarameeres deutlich spürbar. Alle kamen mit dem Schrecken davon. Doch dieser fährt nach der Bebenkatastrophe im Südosten der Türkei zum Anfang des Jahres in die Knochen – zumal ein großes Beben in der größten Stadt der Türkei laut Fachleuten nur eine Frage der Zeit ist.

Luftaufnahme von Häusern in Istanbul.
Ein großes Sicherheitsprogramm soll die meisten Häuser in Istanbul auch im Fall eines größeren Bebens sichern. Dass das auch funktioniert, ist aber zweifelhaft.
APA/AFP/OZAN KOSE

In den sozialen Medien löste das Ereignis jedenfalls eine neuerliche Debatte über die Erdbebengefahr für Istanbul aus. Experten verwiesen auch dort darauf, dass die Erdbebengefahr für Istanbul wächst. Entsprechend stellen sich nun viele Leute die Frage, ob dieses schwache Beben ein Vorzeichen für eine größere Katastrophe sein könnte und wie gut die 16-Millionen-Metropole Istanbul auf ein Beben vorbereitet wäre.

Wildes Wachstum erhöht Gefahr

Alle Erdbebenforscher und Geologen sind sich einig, dass in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren ein größeres Erdbeben auf Istanbul zukommen wird. Die Bruchkante verläuft von Ost nach West quer durch das Marmarameer. Die Stärke des Bebens wird davon abhängen, in welcher Länge die Bruchkante bricht. Je größer die Ausdehnung, umso stärker werden die Erschütterungen ausfallen.

Das letzte große Beben am östlichen Rand des Marmarameeres ereignete sich 1999 und forderte mindestens 20.000 Tote. Welche Schäden ein neuerliches großes Beben hätte, hängt vor allem damit zusammen, wie weit die Häuser der Stadt für ein Beben vorbereitet sind. Da die Stadt in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts von drei auf zehn Millionen Bewohner mehr oder weniger "wild und ungeplant" gewachsen ist, gab es einen großen sehr prekären Baubestand, der sich allerdings in den letzten zwei Jahrzehnten stark verbessert hat. Seit 2012 läuft ein großes Bauprogramm, um erdbebengefährdete Häuser zu sanieren oder abzureißen und neu zu bauen.

Auf Sand gebaut

Dadurch hat sich der Bestand an erdbebensicheren Häusern stark erweitert. Es soll aber immer noch bis zu 150.000 Bauten geben, die als nicht erdbebensicher eingeschätzt werden. Gefährdet sind vor allem die Stadtgebiete, die direkt am Marmarameer liegen. Als Zweites kommt es darauf an, wie fest der Baugrund ist. Es sind seit dem Jahr 2000 Karten entstanden, die den Baugrund zeigen und damit auf die Gefahr aufmerksam machen. Das Problem mit der Gebäudesicherheit ist, dass der Staat zur Sanierung erdbebengefährdeter Häuser nur einen kleinen finanziellen Zuschuss geben kann, sodass vor allem in den ärmeren Gebieten Istanbuls die Sicherheit geringer ist.

Im Alltag der Menschen spielt sich die Gefahr vor allem im Unterbewussten ab: Zwar hat es wegen der Erdbebengefahr immer wieder einmal nach Beben in der Türkei eine kleine Abwanderungswelle aus Istanbul gegeben. Generell wird die Gefahr aber eher verdrängt. Die Behörden bereiten sich zwar mit Notfallplänen auf eine mögliche Katastrophe vor, allerdings wird es stark davon abhängen, wo und wie Istanbul getroffen wird, um noch eine gewisse Versorgung aufrechterhalten zu können. Zumindest der größte Teil der Krankenhäuser und Schulen soll nach offiziellen Angaben mittlerweile mehr oder weniger erdbebensicher sein. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 4.12.2023)