Die steigenden Temperaturen gehen auch an den Gletschern auf dem Dach der Welt nicht spurlos vorbei. Die Eiskappen der Himalayagipfel schmelzen laut jüngsten Studien stellenweise schneller als je zuvor. Zwischen 2011 und 2020 habe sich der Schwund um 65 Prozent beschleunigt, ergab eine Untersuchung im vergangenen Juni. Am generellen Trend wird sich so schnell vermutlich auch nichts ändern, ein nun beobachteter paradoxer Prozess könnte die Folgen des Klimawandels für die Hochgebirgsgletscher Asiens aber immerhin etwas abmildern.

Vereinfacht gesagt, führt bei dem neuentdeckten Mechanismus die Erderwärmung dazu, dass sich die Luft am Gletscher zunehmend abkühlt. Dabei entstehen kalte Winde, die dazu beitragen könnten, die Gletscher zu schützen. Dieser Effekt, den ein internationales Forschungsteam auf der Südseite des Mount Everest in Nepal festgestellt hat, könnte auch den tiefer liegenden Ökosystemen zugutekommen.

Das wissenschaftliche Höhenforschungszentrum Pyramid International Laboratory/Observatory auf 5.050 Meter Seehöhe liegt im Khumbu-Tal im Sagarmatha-Nationalpark am Fuß der nepalesischen Seite des Everest.
Foto: Franco Salerno

Unter dem Mount Everest

Die Klimastation des Pyramid International Laboratory/Observatory liegt in einer Höhe von 5.050 Metern in unmittelbarer Nachbarschaft zu den beiden Gletschern Khumbu und Lobuche. Seit fast drei Jahrzehnten werden hier im Stundenrhythmus meteorologische Daten registriert und gespeichert. Dabei fiel auf, dass entgegen den allgemein steigenden Temperaturtrend hier die Temperaturmittelwerte nahezu unverändert geblieben sind. Woran das liegen könnte, hat sich die Gruppe unter der Leitung von Francesca Pellicciotti vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und Franco Salerno und Nicolas Guyennon vom Nationalen Forschungsrat Italiens (CNR) nun genauer angesehen.

Das daraus rekonstruierte Bild verblüffte das Team: Die globale Erwärmung des Klimas löst an den Gletschern offenbar eine Abkühlungsreaktion aus, bei der kalte Fallwinde, sogenannte katabatische Wind, die Hänge hinabwehen. Um das beobachtete Phänomen zu erklären, mussten die Forschenden die Daten genau untersuchen. "Wir stellten fest, dass die durchschnittlichen Temperaturen insgesamt aus einem einfachen Grund stabil zu sein schienen: Während die Minimaltemperaturen stetig anstiegen, gingen die Oberflächentemperaturen im Sommer kontinuierlich zurück", sagte Salerno.

Kühlung für den Permafrost

Die Gletscher reagieren auf die steigenden Temperaturen, indem sie ihren Temperaturaustausch mit der Oberfläche verstärken. Die Erwärmung führt zu einer größeren Temperaturdifferenz zwischen der wärmeren Umgebungsluft über dem Gletscher und der Luftmasse, die in direktem Kontakt mit der Gletscheroberfläche steht, erklären die Fachleute im Fachjournal "Nature Geoscience".

"Dies führt zu einer Zunahme des turbulenten Wärmeaustauschs an der Gletscheroberfläche und zu einer stärkeren Abkühlung der Oberflächenluftmasse", meinte Pellicciotti. Die Folge ist, dass sich die kühlen und trockenen Oberflächenluftmassen verdichten und die Hänge bis in die Täler hinabströmen, wobei sie bei den tiefer liegenden Teilen der Gletscher, den Permafrostböden und den angrenzenden Ökosysteme für Kühlung sorgen.

Die Pyramide im Schnee. Die Klimastation zeichnet seit fast drei Jahrzehnten stündlich meteorologische Daten auf.
Foto: Franco Salerno

Die Beobachtungen werden von modernsten Modellberechnungen gestützt: ERA-5-Land ist eine globale atmosphärische Reanalyse, die Modelldaten mit Beobachtungen aus der ganzen Welt zu einem globalen und konsistenten Datensatz kombiniert. Die Ergebnisse aus diesem System untermauern, dass die katabatischen Winde nicht nur auf dem Mount Everest, sondern im gesamten Himalaya-Gebirge auftreten könnten. "Dieses Phänomen ist die Folge der stetig steigender globalen Temperaturen", sagte Pellicciotti. "Der nächste Schritt besteht darin, herauszufinden, welche Schlüsseleigenschaften der Gletscher eine solche Reaktion begünstigen."

Nächstes Ziel: Pamir und Karakorum

Dafür begeben sich Pellicciotti und ihr Team in die Gegend der einzigen stabilen oder wachsenden Gletscher der Welt: Im Pamir und im Karakorumgebirge im Nordwesten des Himalaya wollen die Forschenden herausfinden, ob auch die dortigen Eismassen auf die globale Erwärmung mit kalten Winden reagieren. "Die Hänge der Pamir- und Karakorum-Gletscher sind im Allgemeinen flacher als im Himalaya", meinte Pellicciotti. "Daher vermuten wir, dass die kalten Winde eher die Gletscher selbst kühlen, als dass sie tiefer in die Umgebung vordringen. Das werden wir in den nächsten Jahren feststellen können."

Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter erblicken in den nachgewiesenen Prozessen auch einen Funken Hoffnung für das Eis am Dach der Welt. "Während andere Gletscher derzeit dramatische Veränderungen erleben, sind die Gletscher im asiatischen Hochgebirge sehr groß, enthalten mehr Eismassen und haben eine längere Reaktionszeit. Daher haben wir vielleicht noch eine Chance, diese Gletscher zu 'retten'", meinen die Forschenden.

Die Eiskappen des Himalaya reagieren auf die globale Erwärmung. Die schematische Darstellung illustriert die Prozesse im Umfeld der Gletscher.
Grafik: Salerno/Guyennon/Pellicciotti/Nature Geoscience

Verschobenes Gleichgewicht

Wie lange sich gesunde Gletscher, der Permafrost und die umliegende Vegetation des Himalaya noch zur Wehr setzen können, bleibt freilich ungewiss. Die Gletscher an den Südhängen des Himalaya seien klassische Beispiele für "Akkumulations-Ablations-Gletscher", erklären die Wissenschafter. Sie sammeln durch die Sommermonsune des indischen Subkontinents in großen Höhen Masse an und verlieren gleichzeitig an Substanz durch das kontinuierliche Abschmelzen.

Die katabatischen Winde verschieben nun dieses Gleichgewicht: Die kälteren Luftmassen, die von den Gletschern herabströmen, senken die Höhe, in der die Niederschläge stattfinden. Dies führt dazu, dass den Gletschern ein wichtiger Masseneintrag fehlt, während sie weiter schmelzen. Die kühlen Temperaturen, die von den Gletschern abfließen, sind also eher als Notfallreaktion auf die globale Erwärmung zu betrachten, die wohl allenfalls vorübergehend Linderung verschafft. Ein Indikator für die langfristige Stabilität der Gletscher seien sie dagegen nicht, sagte Pellicciotti. (tberg, 4.12.2023)