Israel, Hamas, Gaza
Israelische Angriffe im Süden des Gazastreifens fordern trotz Warnungen der Armee an die Bevölkerung immer wieder viele Menschenleben.
epa / Mohammed Saber

Seit dem Ende der Waffenruhe bombardiert die israelische Armee wieder täglich den Gazastreifen – und nun auch den Süden, wohin ein Großteil der Bevölkerung des Nordens geflohen ist. Immer lauter werden die Stimmen, die Israel einen Bruch des Völkerrechts vorwerfen. Zwar habe der Staat nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober ein Recht auf Selbstverteidigung, doch liege die Zahl der zivilen Opfer unter den Palästinensern schon deutlich höher, und das Vorgehen der Armee sei nicht mehr verhältnismäßig.

Video: Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu hat erneut bekräftigt, dass "der Gazastreifen entmilitarisiert werden muss".
AFP

Doch es komme nicht auf die Opferzahl an, ob Völkerrecht eingehalten oder gebrochen wird, sagt Amichai Cohen, Professor für Völkerrecht am Ono Academic College bei Tel Aviv. Dies liege daran, dass die Hamas ganz bewusst die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde verwende und jede Militäraktion dadurch zivile Opfer fordern müsse. "Der ganze Konflikt beruht darauf, dass die Hamas Zivilisten verwendet, um Israel zu stoppen", sagt Cohen im STANDARD-Gespräch. Während sich die Hamas ums Völkerrecht nicht kümmert, habe Israel ein weitreichendes System aufgebaut, in dem jeder Angriff nach seiner Rechtmäßigkeit bewertet wird.

Der israelische Völkerrechtsprofessor Amichai Cohen.
Ono Academic College

"Zivile Opfer lassen sich im Krieg nie ganz vermeiden, und wenn der Feind sich mitten in eine Zivilbevölkerung hineinsetzt, dann gibt es viele Leid und viele Tote", sagt Cohen, der auch am Israel Democracy Institute forscht. "Entscheidend ist, ob man versucht, das möglichst zu vermeiden." Dazu gehörten vor allem rechtzeitige und präzise Warnungen an die Zivilbevölkerung, Kampfgebiete zu verlassen, was Israel regelmäßig tue.

Werden Zivilisten zur Flucht aufgefordert, dann müsse dafür gesorgt werden, dass ein sicherer Ort zur Verfügung steht, dass es sichere Evakuierungsrouten dorthin gibt und eine ausreichende humanitäre Versorgung. "Es hat eine Zeit gedauert, bis Israel all diese Verpflichtungen erfüllt hat", sagt Cohen in Hinblick auf die ersten Aufforderungen zur Flucht aus dem Norden im Oktober. "Aber auch aufgrund von US-Druck hat Israel große Anstrengungen in diese Richtung gesetzt." Im Süden nun würde Israel vor Angriffen noch viel präziser warnen.

Rückkehr nach Ende der Kämpfe?

Entscheidend für die Rechtmäßigkeit dieser Strategie sei auch, dass die Evakuierung temporär sei und die Bewohner nach Ende der Kämpfe zurückkehren können. Davon sei derzeit auszugehen, betont Cohen.

Bei der Beurteilung, ob die Zahl der Opfer noch verhältnismäßig ist oder nicht, müsse man nicht nur das Hamas-Massaker vom 7. Oktober, sondern die 16 Jahre Konflikt mit ständigen Raketenangriffen auf israelische Städte in Betracht ziehen, sagt Cohen. "Die gehen auch jetzt weiter, erst gestern musste ich wieder im Luftschutzbunker Zuflucht suchen", teilt er die Erfahrung unzähliger Israelis.

Vieles hänge vom Verhalten der Hamas ab, betont Cohen. "Es gibt nur einen Weg, um zivile Tote ganz zu vermeiden: Die Hamas müsste sich ergeben." Vorbild dafür könnte die PLO sein, die im Libanon-Feldzug 1982 aus Beirut nach Tunis abgezogen ist. "Es ist eine Möglichkeit, aber wir rechnen nicht damit. Denn die Hamas ist nicht nur genozidal, sie ist auch suizidal."

Internationale Lösung gefordert

Die Bewertung von Israels Militärkampagne werde mehr vom Erreichen einer langfristigen Lösung als von der aktuellen Zahl der zivilen Opfer abhängen, glaubt Cohen. "Man wird die Menschen im Gazastreifen nicht sich selbst überlassen dürfen", sagt er. "Benötigt wird eine regionale oder internationale Lösung, um Arbeit, Wohnraum, Schulen und andere Dienstleistungen zu schaffen. Wir dürfen nicht zur Lage vom 6. Oktober zurückkehren."

Das Ziel, die Hamas endgültig zu vernichten, werde Israel allerdings nicht erreichen, glaubt Cohen. Denn der Druck aus dem Ausland werde zuvor einen Waffenstillstand unvermeidbar machen. "Es gibt internationale Uhren, und die ticken laut", sagt er. "Israel hat nicht Jahre Zeit." (Eric Frey, 6.12.2023)