Bald sind es zwei Monate, seit Hamas-Terroristen mehr als 200 Menschen aus israelischen Kibbuzim, Kasernen und einem Festivalgelände in den Gazastreifen verschleppt haben. 108 sind seither im Zuge von Gefangenenaustauschen freigekommen, meist Frauen und Kinder. Zuvor war schon eine Soldatin aus den Händen der Terrorgruppe befreit worden. Von vielen Geiseln gibt es aber nach wie vor kein Lebenszeichen, auch deshalb nicht, weil die Hamas dem Roten Kreuz bislang jeglichen Besuch verweigert. Für die Angehörigen, die in Israel auch zwei Monate nach dem Verschwinden ihrer Freunde und Familienmitglieder nicht wissen, ob diese überhaupt noch leben, wächst mit jedem Tag die Ungewissheit – und die Angst.

Wie viele Geiseln noch leben, ist ungewiss.
REUTERS/Janis Laizans/File Photo

Israels Gesundheitsministerium hat nun ein Komitee aus Ärztinnen und Ärzten gebildet, das Angehörigen dabei helfen soll, zumindest ein vergleichsweise großes Maß an Gewissheit zu erlangen, was mit den Vermissten geschehen sein könnte. Anhand einer intensiven Analyse der Videos, die die Hamas-Terroristen während ihres Pogroms am 7. Oktober selbst angefertigt und verbreitet haben, schließen die Fachleute dabei auf die Überlebenschance der gefilmten Opfer.

In sieben Fällen, sagt Hagar Misrahi, die den Ausschuss leitet, habe man den Angehörigen bereits Todesmeldungen überbracht. Im israelischen Radiosender Kan berichtete sie, dass auch die Aussagen von freigelassenen Geiseln in die Sondierungen eingeflossen seien. Sechs Zivilpersonen und ein Soldat seien so in Abwesenheit – oder, besser, in Gefangenschaft – für tot erklärt worden. Außergewöhnliche Maßnahmen für außergewöhnliche Zeiten: Anders als sonst ist für die Feststellung des Todes einer Geisel in Israel derzeit keine ärztliche Leichenschau vonnöten.

Schwere Entscheidung

"Jemanden für tot zu erklären ist nie einfach – vor allem in der Situation, in der wir uns gerade befinden", sagte Misrahi im Radio-Interview. Doch wolle man den Angehörigen möglichst früh die Möglichkeit geben, sich aus der Ungewissheit zu befreien und trauern zu können. In die Entscheidungsfindung sind unter anderen ein forensischer Pathologe und ein Arzt einbezogen, der auf Traumata spezialisiert ist. Sekunde für Sekunde lassen sie die grausamen Videos über sich ergehen und spüren jedem Detail nach, das auf die Schwere von Verletzungen hindeuten könnte. Auch offenbar leblose Personen, die auf den Bildern zu sehen sind, werden genau auf jedes kleinste Lebenszeichen untersucht. Faktoren sind aber auch das bekannt gewalttätige Verhalten der Hamas-Terroristen sowie die, wenn überhaupt, schlechte medizinische Versorgung der teils schwer verletzten Geiseln im Gazastreifen.

Dass Familien die Nachricht vom Tod einer Geisel nicht akzeptieren können und stattdessen auf einen tatsächlichen Beweis, also den Leichnam des Toten, warten möchten, kann Misrahi verstehen. Auch deshalb, weil die Untersuchungen ihres Teams zwar aktuell ausreichen, um Vermisste für tot zu erklären, sie aber keinen definitiven Beweis dafür liefern können. Im Fall der neunjährigen Emily Hand ist genau so ein Fehler passiert. Ihr Vater hatte bereits inoffiziell vom Tod seiner in den Gazastreifen verschleppten Tochter erfahren, als das Mädchen schließlich im Zuge des Gefangenenaustauschs freigelassen wurde – lebend, aber schwer traumatisiert. (Florian Niederndorfer, 5.12.2023)