Wien – US-Journalismus-Professor Jeff Jarvis holt die Vergangenheit in die Zukunft: In seinem Buch "The Gutenberg Parenthesis" spannt er einen Bogen von den beweglichen Lettern, die 1450 die Produktion von Büchern und somit die Welt revolutionierten, bis zum Status quo des Internets und den Lehren, die die Gesellschaft aus dem Zeitalter des Drucks ziehen kann. Jarvis gilt als Vordenker und Kritiker des digitalen Raums gleichermaßen. Auf Einladung des Medienhauses Wien und des fjums – Forum Journalismus und Medien gab Jarvis am Dienstag in Wien einen Ein- und Ausblick zum Zustand des digitalen Zeitalters.

US-Journalismus-Professor Jeff Jarvis (links) und Andy Kaltenbrunner vom Medienhaus Wien
US-Journalismus-Professor Jeff Jarvis (links) und Andy Kaltenbrunner vom Medienhaus Wien sprachen über Journalismus im digitalen Zeitalter.
Medienhaus Wien

Mit dem Aufkommen des Buchdrucks sei ein gesellschaftlicher Wandel einhergegangen. Jarvis thematisiert Fragen des Urheberrechts, Massendruck oder die Etablierung von Geschäftsmodellen, um Journalismus verkaufen zu können, sowie die aufkommende Konkurrenz von Radio und Fernsehen, die den Verlagen zusetzte. Das Internet ist kein Medium, das Internet sind wir, sagt Jarvis.

Internet in den Kinderschuhen

In Analogie zum Buchdruck befindet sich das Internet erst in seiner Anfangszeit. Verschwörungstheorien, Hatespeech oder Fake News entstünden nicht in einem luftleeren Raum oder weil die Technologie per se so gefährlich sei, sondern weil die Menschen sie dafür instrumentalisieren.

Laut Jarvis befänden wir uns gerade in der Phase des Internets, wo der Schrei nach Reglementierungen laut ist, um die Leute vor "schädlichen Inhalten" zu schützen. Das betreffe nicht nur, aber ganz stark Europa, wo man statt auf Protektionismus lieber auf die Macht von Open Source setzen sollte, so Jarvis. Beim Buchdruck gab es auch rasch Bestrebungen, "gefährliche Schriften" zu verbannen, und eine Zensur, die deren Verbreitung verhindern sollte. Die Krux: Die Gesellschaft sollte sich nicht auf die negativen Dinge fokussieren, sondern die positiven vorantreiben. Und Institutionen schaffen, deren Ziel es ist, das Internet besser zu machen.

Jüngere an die Macht

Das Internet werde derzeit von Geeks und tendenziell älteren Männern kontrolliert, während die jüngere Generation aufgrund ihrer Technologieaffinität weniger dazu neigt, auf Falschmeldungen reinzufallen und sich manipulieren zu lassen. Ein Hoffnungsschimmer, genährt von Medienkompetenz. In Analogie zum modernen Buchdruck, dessen Erfindung im Jahr 1450 angesiedelt ist, befänden wir uns im Internetzeitalter derzeit im Jahr 1480, so Jarvis. Also erst in den Kinderschuhen.

Jarvis glaubt zwar nicht, dass sich Geschichte wiederholt, er zieht aber einige Parallelen und erwähnt dabei Black Lives Matter. Die Bewegung hätte sich dank des Internets so breit und stark formiert. Hier sehe man das reformatorische Potenzial, das in der Hülle Technologie stecke. Jarvis referenziert auf den berühmten US-Nachrichtensprecher und CBS-Journalisten Walter Cronkite, der seine Moderationen mit den Worten "And that’s the way it is" beendete. Aber, so Jarvis, viele US-Bürger und Minderheiten sahen sich in den Nachrichten überhaupt nicht repräsentiert. Für sie war es anders. Das Internet gibt ihnen jetzt eine Stimme, dort könnten sie sich Gehör verschaffen.

Jarvis: Internet lässt Filterblasen platzen

Jarvis verweist auf Studien, die die oft ins Spiel gebrachten und kritisierten "Filterblasen" und Echokammern des Internets relativieren. Menschen würden ihre Freundschaften nicht einfach nach den eigenen politischen Präferenzen auswählen, sondern nach anderen Parametern. Die Filterblasen würden weniger im Internet zum Tragen kommen, als viel mehr im realen, persönlichen Umfeld existieren. Das Internet schafft keine Filterblasen, es lässt sie viel mehr platzen, so Jarvis.

Das Internet und die künstliche Intelligenz werden auch das verändern, was wir unter Content oder Inhalt verstehen, so Jarvis. Das Buch hat einen Anfang und ein Ende und jede Geschichte einen Spannungsbogen. Das gelte auch für den Journalismus und die Wege, wie Artikel strukturiert seien. Jetzt drehe sich alles weiter, es franse aus, es wird ständig adaptiert.

Einbeziehung des Publikums

Den Schlüssel für besseren und auch wirtschaftlich tragfähigen Journalismus sieht Jarvis in der Einbeziehung von Leserinnen und Lesern. Dafür gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Ob das jetzt User Generated Content oder konstruktiver Journalismus sei: Im Mittelpunkt müssten die Bedürfnisse des Publikums stehen.

Viele der größeren Medienhäuser seien in der Hand von Hedgefonds und Investoren. Dementsprechend stünden nicht Innovationen im Zentrum, sondern Renditen. Eine Chance sieht Jarvis in medienübergreifenden Initiativen wie Recherchenetzwerken, aber auch in kleineren journalistischen Einheiten, die ihre Zielgruppen bedienen. Die Hoffnung lebt. (omark, 6.12.2023)