Venezuelas Diktator Nicolás Maduro zeigt eine Karte Venezuelas in den Grenzen, die es nach seiner Vorstellung haben sollte. Seinen Daumen hat er auf dem von ihm beanspruchten Gebiet.
Venezuelas Diktator Nicolás Maduro zeigt eine Karte Venezuelas in den Grenzen, die es nach seiner Vorstellung haben sollte. Seinen Daumen hat er auf dem von ihm beanspruchten Gebiet.
AFP/Venezuelan Presidency/ZURIMA

Venezuela will nach einem Referendum große Teile seines Nachbarlandes Guyana annektieren und lässt seine Truppen aufmarschieren. Guyana sucht die Unterstützung des UN-Sicherheitsrats. Der Grenzstreit reicht Jahrhunderte zurück, neue Ölfunde vor Guyana weckten die Begehrlichkeiten Venezuelas erneut.

Frage: Was hat die Krise ausgelöst?

Antwort: Venezuelas Diktator Nicolás Maduro hat seine Bevölkerung am vergangenen Sonntag darüber abstimmen lassen, ob sich das Land große Teile des östlichen Nachbarn Guyana einverleiben soll. Wenig überraschend fand sich für diesen Vorschlag eine Mehrheit von rund 96 Prozent. Nun will Maduro mit dieser Abstimmung im Rücken Nägel mit Köpfen machen und das von ihm beanspruchte Gebiet per Gesetz zur venezolanischen Provinz "Guayana Esequiba" machen. Auch Förderlizenzen für Öl, Gas und Bodenschätze sollen umgehend vergeben werden.

Frage: Um was für ein Gebiet handelt es sich?

Antwort: Die Region Essequibo umfasst das Gebiet westlich des gleichnamigen Flusses und ist mit einer Fläche von 159.500 Quadratkilometern fast doppelt so groß wie Österreich. Der Landesteil Guyana östlich des Essequibo hat dagegen nur etwas mehr als 55.000 Quadratkilometer. In diesem lebt allerdings der Großteil der fast 800.000 guyanischen Staatsbürger, der westliche Landesteil hat weniger als einen Einwohner pro Quadratkilometer. Das Gebiet besteht aus weitgehend unberührter Natur, verfügt aber über reiche Rohstoffvorkommen. Zuletzt wurden vor der Küste reiche Ölvorkommen entdeckt, die Guyana in die Liste der Staaten mit den größten Reserven katapultierten.

Frage: Worauf stützt sich Maduros Anspruch auf Essequibo?

Antwort: Aus Sicht der Regierung in Caracas ist das Gebiet seit jeher venezolanisch. Bereits 2006 ließ Präsident Hugo Chávez der Flagge des Landes einen achten Stern für die beanspruchte Provinz hinzufügen – in Anlehnung an die acht Sterne der Flagge, die einst der Befreiungskämpfer Simón Bolívar Venezuela zuwies.

Frage: Wie entwickelten sich die Besitzverhältnisse historisch?

Antwort: Im späten 16. und im 17. Jahrhundert gründeten die Niederlande zahlreiche Niederlassungen an der südamerikanischen Nordküste zwischen dem Amazonas und dem Orinoco. Im britisch-niederländischen Vertrag von 1814 gingen die niederländischen Besitzungen Demerara, Essequibo und Berbice an London, wobei die Grenze zu Venezuela nicht festgelegt wurde. Doch das 1819 gegründete unabhängige Gran Colombia erhob Anspruch auf das Gebiet westlich des Essequibo.

Im Jahr 1840 beauftragte die britische Regierung daher den deutschen Naturforscher Robert Hermann Schomburgk mit der Feststellung der Grenzen der mittlerweile aus den ehemaligen niederländischen Besitzungen geformten Kolonie British Guiana. Schomburgk kannte das Gebiet aufgrund seiner Forschungstätigkeit für die Royal Geographical Society bereits gut. Nach jahrelanger Untersuchung der Gebiete präsentierte er 1844 in London seine Ergebnisse, und die von ihm bestimmte Grenze zu Venezuela wurde als "Schomburgk Line" bekannt, die im Norden bis zur Mündung des Orinoco reichte. Im selben Jahr erneuerte das nunmehr unabhängige Venezuela die Ansprüche Großkolumbiens.

Frage: Wie wurde der heutige Grenzverlauf geregelt?

Antwort: Bis in die 1870er-Jahre interessierte der Grenzstreit kaum jemanden – bis in dem Gebiet große Goldreserven entdeckt wurden. Dies führte letztlich zur Krise von 1895. Caracas sicherte sich die Dienste eines Lobbyisten in den USA, der sich in Washington für die venezolanische Seite einsetzte. Als Grundlage für die Intervention diente die Monroe-Doktrin von 1823, die sich gegen europäischen Kolonialismus auf amerikanischem Boden richtete. US-Präsident Grover Cleveland legte die Doktrin so aus, dass alle Angelegenheiten auf dem amerikanischen Kontinent die Interessen Washingtons beträfen. London akzeptierte schließlich den Vorschlag einer internationalen Schlichtung, und 1899 wurde in Paris entschieden, die Schomburgk-Linie im Wesentlichen als Grenze zu definieren. Caracas hielt sich an das Ergebnis – bis nach dem Tod des Vertreters der venezolanischen Delegation Severo Mallet-Prevost im Jahr 1948 Vorwürfe veröffentlicht wurden, dass bei dem Schiedsspruch ein Deal zwischen Russland und Großbritannien den Ausschlag gegeben haben soll. In der Folge erhob Caracas erneut den Anspruch auf das Gebiet. 2018 erfolgte eine Eingabe Guyanas beim Internationalen Gerichtshof zur Bestätigung des Schiedsspruchs. Das Referendum wurde von Maduro für den 3. Dezember angesetzt – just einen Tag nach dem 200. Jahrestag der Monroe-Doktrin.

Frage: Droht in Südamerika nun ein neuer Krieg?

Antwort: Einem militärischen Angriff Venezuelas hätte Guyana allein wenig entgegenzusetzen. Die Guyana Defence Forces sind eine Freiwilligenarmee mit rund 3.400 aktiven Soldaten. Seine einzigen nennenswerten Einsätze hatte das Militär im Jahr 1969. Damals kam es einerseits in Essequibo zum Rupununi-Aufstand von rebellischen Farmern, deren Anführer nach Venezuela flüchteten, andererseits wurden im selben Jahr Soldaten Surinams aus dem umstrittenen Tigri-Gebiet vertrieben, die dort ein Flugfeld errichteten. Die Armee Venezuelas hingegen wurde in der jüngeren Vergangenheit insbesondere mit russischen Waffen hochgerüstet. Die "Bolivarische Armee" verfügt über 123.000 Mann und ist – hinter Brasilien, Kolumbien und Mexiko – die viertgrößte in Lateinamerika. Sie mischte sich immer wieder mit Putschen in die venezolanische Politik ein, Maduro dient sie zur Festigung seiner Machtposition. In Reaktion auf die venezolanische Drohkulisse beorderte Brasilien sein Militär in die Grenzregion zu den beiden nördlichen Nachbarn. Allerdings sieht die Regierung in Brasília keine Gefahr einer militärischen Eskalation. Während Venezuela von China und Russland unterstützt wird, hat Guyana die USA auf seiner Seite. (Michael Vosatka, 6.12.2023)