Philip Bauer (li.) und Alois Gstöttner duellieren sich. Schachexperte Anatol Vitouch analysiert und trinkt Kaffee.
Foto: STANDARD/Heribert Corn

Weiß beginnt, Schwarz gewinnt. So sagt man es. Glauben Sie mir, das ist völliger Unsinn. Ich habe unzählige Partien mit Schwarz verloren. Gut, ich habe auch unzählige Partien mit Weiß verloren, aber eben nicht ganz so viele. Also schiebe ich Alois die schwarzen Figuren zu. Er nimmt sie ohne Murren an. Für diese provokant zur Schau getragene Siegessicherheit sollte man ihn auf der Stelle verwarnen. Aber Anatol, der Dritte im Bunde, nippt nur genüsslich an seiner Melange.

Alois, das ist Alois Gstöttner. Er schreibt, fotografiert und kümmert sich hauptberuflich um Kicken ohne Grenzen. Das Projekt soll junge Menschen aus benachteiligten Verhältnissen durch die integrative Kraft des Fußballs an der Gesellschaft teilhaben lassen. Alois möchte allen Kids die gleichen Chancen geben, ihre Potenziale zu entwickeln. Der Mann hat eine Vision. Trotzdem will ich ihn planieren.

Anatol, das ist Anatol Vitouch. Er ist Autor, Textchef der Zeitschrift Datum und hielt bereits bei einer Elo-Zahl von 2364. Das ist kein Pipifax. In Österreich ist Anatol aktuell die Nummer 72. Seit der Weltmeisterschaft 2016 zwischen Magnus Carlsen und Sergei Karjakin berichtet er für den STANDARD über den Schachsport. Also wer könnte meine Partie gegen den guten Alois im Café am Heumarkt besser analysieren? Eben.

Gstöttner will sich mit den schwarzen Steinen gegen Bauers Damenbauerneröffnung offenbar nicht mit Remis zufriedengeben. Die Holländische Verteidigung, 1...f5, ist eine Kampfansage an Bauer, der ihr mit einem bewusst ruhigen, manche würden auch sagen: harmlosen Aufbau den Giftzahn zu ziehen versucht.
Anatol Vitouch macht sich erste gnadenlose Notizen.
Foto: STANDARD/Heribert Corn

Vor rund einem Jahr habe ich mich auf Chess.com registriert. Damals ging Schach online durch die Decke. Seither zählt die Plattform laut eigenen Angaben mehr als 100 Millionen Mitglieder. Ich wollte sehen, wie weit ich es als Autodidakt bringen kann. Als Teenager bekam ich in den Achtzigern einen Schachcomputer der Marke Novag Constellation Junior geschenkt. Für ein paar Monate war er mein Ein und Alles. Dann kamen die Partys. Seither spielte ich nur sporadisch.

Bittere Niederlagen

Jetzt ist alles anders. Die Partys sind gefeiert, die Kinder haben ihre eigenen Interessen. Zeit, sich intensiv dem Brett zu widmen. Ich spiele ausschließlich Blitzschach. Fünf Minuten Bedenkzeit pro Nase. Es ist ein Trip zwischen Himmel und Hölle, eine gewachsene Hassliebe. Ich liebe Schach, ich hasse Schach. Und das innerhalb von wenigen Minuten. Manchmal fühle ich mich wie die Reinkarnation von Bobby Fischer, kurz darauf will ich mit diesem vermaledeiten Spiel nichts mehr zu tun haben.

Wer Schach spielt, muss verlieren können. Jeder Sieg in diesem Jahr war eine Selbstverständlichkeit, jede Niederlage ein Stich ins Herz. Ich habe meinen Account mehrmals aus Frust gelöscht – um mich am nächsten Tag neu zu registrieren. Wie viele Partien ich gespielt habe? Zwei- bis dreitausend werden es wohl gewesen sein. Und ja, ich habe mich deutlich verbessert. Es ging aber langsamer, als ich dachte.

Bauer hat seinen Springer tief ins schwarze Hinterland beordert, wo er nun auf g6 festsitzt. Hat der Weiße weiter gerechnet? Plant er eine plötzliche Öffnung des Spiels, bevor Gstöttner seinen Damenflügel entwickelt? Nicht ganz. Nach einer langen Nachdenkpause sendet Bauer seinem Springer Verstärkung in Gestalt des weißfeldrigen Läufers – der einen Zug später auf h5 vom Nachschub abgeschnitten wird und relativ ersatzlos verloren geht.
Stillleben im Café am Heumarkt im dritten Wiener Gemeindebezirk.
Foto: STANDARD/Heribert Corn

Am Schachbrett begegnet man vielen Problemen. Da gibt es die Uhr, die Nerven und die eigenen Dummheiten. Der größte Troublemaker bleibt aber der Gegner. Offensichtlich hat Alois nicht erst gestern mit dem Schachsport angefangen. Einst haben ihn die Berichte von Anatol im STANDARD angefixt. Er hat sich haufenweise Tutorials auf Youtube reingezogen, der Saint Louis Chess Club ist sein Lehrmeister. Alois hat mehr als 10.000 Partien gespielt, die meisten davon auf Lichess.org.

Dreckige Siege

Die reine Anzahl schreckt mich nicht. Man trifft online immer wieder auf routinierte Spieler. Gott, ich habe gegen den halben indischen Subkontinent gespielt. Ich wurde von Kindern und Greisen zerlegt. Aber ich habe auch Spieler geschlagen, die mehr als 20.000 Partien hinter sich haben. Die dreckigen Siege sind die schönsten. Wenn einem strategisch überlegenen Gegner die Zeit davonläuft, geht mir richtig das Herz auf.

Gegen Alois scheinen weder Zeit noch Taktik zu helfen. Er hat sich im Sommer dem Schachklub Ottakring angeschlossen, seine Elo-Zahl in Turnieren auf 1604 geschraubt. Der Schritt zum klassischen Schach hat ihm alles abverlangt. Jetzt liefert er sich mehrstündige Schlachten, die ihn körperlich an Grenzen bringen. Er macht das schon gut. Und mir gehen zusehends die Mittel aus. Also greife ich in die unterste Schublade, ich probiere es mit Trashtalk. Juckt ihn nicht wirklich.

Noch ist die Partie für den Weißen nicht verloren. Mit einem Bauernraub auf a7 könnte er die schwarzen Kräfte vom Angriff gegen den weißen Monarchen ablenken. Aber Bauer greift nicht zu, solch billiger Materialismus ist seine Sache nicht. Stattdessen reißt er sich mit zwei Kraftzügen den eigenen Königsschutz auf und vergisst dabei auf die En-passant-Regel. Ja, so sieht Suizid am Schachbrett aus.
Auch wenn man die Situation spiegelverkehrt betrachtet, steht Schwarz besser da.
Foto: STANDARD/Heribert Corn

Ich würde niemals zugeben, dass ich die En-passant-Regel vergessen habe. Das war ein Bauernopfer. Dem Experten fehlt offensichtlich der Weitblick. Ich habe mein Rating im Blitzschach auf Chess.com in einem Jahr von rund 600 auf 1082 gesteigert. Damit bin ich besser als 84,7 Prozent der registrierten Spieler, die Nummer 7208 in Österreich, die Nummer 1.710.032 der Welt. Wo bleibt eigentlich der Lorbeerkranz?

Goldene Regeln

Über Monate hinweg hatte ich mir an der 1000-Punkte-Grenze die Zähne ausgebissen. Immer wieder kam es kurz vor dem vermeintlichen Durchbruch zum Absturz. Aber ich habe dazugelernt. Spiele niemals, wenn du müde bist! Spiele niemals, wenn du nicht voll bei der Sache bist! Und spiele niemals weiter, wenn du gerade drei Partien in Folge verloren hast! Diese drei goldenen Regeln waren der Schlüssel zur Vierstelligkeit.

Wie geht es weiter? Setze ich mir neue Ziele? Oder brauche ich eine Pause? Die Luft wird immer dünner. Dem Learning-by-Doing-Konzept sind im Schach Grenzen gesetzt. Um mich weiter nach oben zu orientieren, müsste ich wohl ein paar Eröffnungen studieren, mich mit der Theorie auseinandersetzen. Will ich das? Wie auch immer, vorher muss ich Alois noch eine Lektion erteilen. Alles ist möglich, ich habe schon aussichtslosere Partien gedreht.

Bauer ist einer, der bis zum letzten Stein kämpft, sein Motto: Noch keine Partie wurde durch Aufgabe gewonnen. Diese wird aber auch ohne Aufgabe nicht mehr zu retten sein. Routiniert zieht Gstöttner die Schwerfiguren auf der g- und h-Linie zusammen, bevor er Bauers König zum Abschlusstanz nach h3 lockt, wo er seine letzten Schritte tut: Schach und matt!

(Philip Bauer, Anatol Vitouch, 11.12.2023)