Die Schriftstellerin Raphaela Edelbauer nannte es vor kurzem selbstironisch "kulturelles Tourette", wenn Österreicher:innen aggressiv Marille gegenüber Aprikose, Sackerl statt Tüte oder Sessel gegenüber Stuhl als Zeichen der "Andersartigkeit" gegenüber Deutschen betonen, als ginge es um nichts weniger "als den Fortbestand der ganzen Nation". Die regelmäßigen Klagen, auch im STANDARD-Einserkastl, über die fortschreitende "Germanisierung" oder "Piefkenisierung" besonders jüngerer Sprecher:innen in Österreich gehören sicherlich ebenfalls in diese Kategorie.

Hand einer Statue, dahinter eine Österreich-Fahne
Die österreichische Sprache dient auch als Merkmal nationaler Identität. Warum eigentlich?
APA/HELMUT FOHRINGER

Aber was wissen wir eigentlich aus wissenschaftlicher Sicht über den Zusammenhang zwischen deutscher Sprache und Nationalidentität in Österreich? Und warum ist gerade die sprachliche Abgrenzung zu "den Deutschen" so zentral?

Dominanz und Asymmetrie im deutschsprachigen Raum

Zunächst muss man kurz auf zwei soziolinguistische, vor allem von Michael Clyne geprägte Konzepte eingehen: Dominanz und Asymmetrie. Dominanz bedeutet, dass ein Gebiet unter mehreren über den größten kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss in einem gemeinsamen Sprachraum verfügt (hier also Deutschland). Das führt dazu, dass sich die anderen Teile des Sprachraums, also hier zum Beispiel Österreich, bis zu einem gewissen Grad am dominanten Gebiet sprachlich orientieren.

Es entsteht eine Asymmetrie zwischen den Sprachvarianten, die sich zum Beispiel pro Land unterscheiden, aber theoretisch die gleiche Funktion erfüllen. Beispiel: Alle geografischen Varianten des Standarddeutschen ("Schrift"- oder "Hochsprache") dienen der öffentlichen, distanzierten, formellen Kommunikation (zum Beispiel Erdäpfel genauso wie Kartoffeln). In vielen Fällen setzen sich jedoch Varianten dominanter Gebiete zum Beispiel aufgrund ihrer schieren Häufigkeit oder ihres höheren sozialen Ansehens gegenüber synonymen Varianten überregional durch.

Ideologischer und historischer Hintergrund

Den Einfluss dieser Asymmetrie zeigen Analysen zu Spracheinstellungen und Wertvorstellungen (Ideologien): Wenn etwa (Nord-!)Deutschland als einziges Zentrum korrekten Deutschs angesehen wird (auch international, zum Beispiel unter DaF-Lehrkräften, vergleiche etwa hier und hier), nennt man dies eine monozentrische Ideologie. In Österreich existiert dagegen auch die selbstbewusste Herausstellung des Österreichischseins qua Sprache: Dann vergleichen Österreicher:innen das "eigene" Deutsch mit dem "fremden" Bundesdeutschen, um sich ihrer nationalen Identität zu versichern.

Um diesen Identitätsdiskurs zu verstehen, muss man in die Nachkriegsgeschichte blicken: Österreich wollte sich von Deutschland und den Nazis abgrenzen und die nationale Eigenständigkeit betonen. Man wollte nicht zuletzt durch das Österreichische Wörterbuch "nach den Preußen" nun "auch ihren Káffe" (Neues Österreich, 5.3.1948) ausbürgern – Deutsche wurden 1945/46 wirklich deportiert – und die Sprache in Österreich vom Nazi-Deutschen "reinigen", weil dieses den Österreicher:innen von Deutschland aufgezwungen worden sei (Opferthese, anyone?). Seinerzeit betraf das nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Marille statt Aprikose, sondern auch Phrasen wie zur Auszahlung bringen, die angeblich aus der Nazibürokratie stammten (gegenüber "österreichischem" auszahlen).

Wie bei modernen Nationalstaaten üblich, wurde die österreichische Nation also über ihre Sprache definiert. Diese sei vom "fremden", dominanten Bundesdeutschen reinzuhalten ("Nationalvarietäts-Purismus", Ulrich Ammon). Der teils aggressive Ton der Debatte herrscht bis heute, zum Beispiel auch gegenüber deutschen Migrant:innen am Arbeitsplatz. Jedoch wurde und wird auch breit diskutiert, wie die Vielfalt der deutschen Sprache in Österreich in dieses Bild passt: Wie umgehen mit dem Fördern weiterer Asymmetrien durch einen "ideological blow-up" (Peter Auer), also dem Aufblähen zentral- und ostösterreichischer Merkmale wie Paradeiser oder Sessel zu einem gesamtösterreichischen Standard? Und wie vereint man diesen Gedanken mit Ansichten von Sprecher:innen, die sich mehr über ihren Dialekt oder ihre Umgangssprache als österreichisch identifizieren?

Wir wissen nicht, wie viele Österreicher:innen welches Deutsch mit welchen Wertvorstellungen in welchem Kontext zum Zeichen nationaler Identität setzen. Dazu gibt es keine größeren Studien. Übrigens auch umgekehrt nicht über Deutsche. Deutsche sind sprachlich ignorant, in Österreich leiden alle an einem sprachlichen "Minderwertigkeitskomplex"? Umfassend überprüft hat das nie jemand, und nein, anekdotische Evidenz ist keine Evidenz!

Sprache als Anzeichen – Enregisterment österreichischer Varianten

Allerdings gibt es zum Beispiel Fallstudien zum "Enregisterment" (zum Beispiel hier): Damit ist ein Diskurs über Sprache gemeint, in dem sprachliche Varianten und Repertoires überhaupt erst von der Sprachgemeinschaft als sozial bedeutsam "registriert" werden. Die Sprache wird zum Index (Anzeichen) für eine soziale Qualität. Zum Beispiel Siezen als Zeichen von Höflichkeit. Oder der Gebrauch von Wörtern wie Sessel und Paradeiser (gegenüber Stuhl und Tomate) als Anzeichen für österreichische Identität.

Man sieht gleich, wie stark so etwas vom Kontext abhängt: Siezen in bestimmten Gegenden Tirols und Kärntens, womöglich auf über 1.000 Meter Berghöhe? Beliebt macht man sich damit nicht, Höflichkeit wird in dem Fall anders signalisiert. Sessel und Paradeiser als dezidiert "österreichisch"? Nicht in Vorarlberg und Tirol, dort verwendet man Stuhl und Tomate, ganz ohne Anbiederung an deutsche Touris. Enregisterment macht aber keine objektive Aussage über den Sprachgebrauch, sondern soll das eigene Handeln oder die eigene Identität durch die Wahl bestimmter Sprachvarianten verdeutlichen – abhängig von der Situation. Siezen ist eben nicht immer höflich, und nicht jede Verwendung von Sessel ist, na no na ned, ein Zurschaustellen von Identität. Und genau deswegen werden auch nur bestimmte Varianten überhaupt als "österreichisch" registriert.

Umgekehrt heizen freilich nicht alle bundesdeutschen Merkmale eine Diskussion über die Abgrenzung zu den "Piefke" an. Stattdessen gibt es eine gedankliche Checkliste an Varianten (ein "Register“!), und nur diese führen zum Sprechen über Identität und lösen allenfalls negative Emotionen bei einigen hierzulande aus: Abgesehen von bundesdeutscher Prosodie (zum Beispiel Wortakzent, Sprechrhythmus, Satzmelodie) gehören dazu lecker statt gut, gucken statt schauen, hoch statt hinauf/herauf sowie einige Wörter, die "ü" mit "t", "ts" oder "tsch" kombinieren, beispielsweise Tüte, Mütze, Tschüss. (Bi-)Nationales Enregisterment ist – damals von der Forschung noch nicht so genannt – in älteren Gruppeninterviews mit Österreicher:innen dokumentiert, aber auch im öffentlichen Sprachgebrauch, zum Beispiel in Videos auf YouTube (erscheint demnächst).

Und jetzt?

Warum sind solche Diskurse relevant? Weil sie auch soziale Stereotype befördern, wie "der Deutsche" oder "der Österreicher" an sich spräche und zu sein habe – ohne dass das im konkreten Fall tatsächlich zutreffen muss. Das kann negative Folgen für das Miteinander zwischen Deutschen und Österreicher:innen haben. Nationale Identitätskonstruktionen und sprachliche Ideologien haben ihren Sinn. Der hört dort auf, wo Exklusion und Diskriminierung beginnen. Mehr Normtoleranz und mehr Entspanntheit sind also nie verkehrt, hüben wie drüben. Dominanz wird man nicht so einfach abschaffen, aber man kann auf unterschiedlichste Weise mit ihr umgehen. Edelbauer hat in ihrem Beitrag durchaus recht: Nicht ob, sondern wie man sich abgrenzt, ist entscheidend. (Konstantin Niehaus, 14.12.2023)