Der britische Innenminister James Cleverly und Ruandas Außenminister Vincent Biruta trafen Anfang Dezember in Kigali zusammen.
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In der Nacht zum Dienstag hat ein Asylwerber in England Suizid begangen. Seine Personalien hält die örtliche Polizei mit Rücksicht auf die Angehörigen einstweilen geheim. Der Mann gehörte zu den mittlerweile mehr als 300 Insassen des Asylschiffs Bibby Stockholm, das im Hafen von Portland in der Grafschaft Dorset vor Anker liegt.

Der örtliche Parlamentsabgeordnete sprach von "einer Tragödie", "verzweifelten Umständen" und einem "traurigen Ausgang". Richard Grosvenor Plunkett-Ernle-Erle-Drax, selbst Nachfahre eines Sklavenhalters in der Karibik, legte außerdem seine politischen Karten auf den Tisch: "Wir müssen den schlimmen Handel mit menschlichem Elend unterbinden." Anders gesagt – und gewiss polemisch zugespitzt: Hätte sich der Flüchtling von der Insel ferngehalten, könnte er noch am Leben sein.

Menschen haben Blumen am Eingang des Hafens von Portland niedergelegt, nachdem ein Asylwerber Suizid begangen hat.
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Auf dem Niveau des Richard Drax bewegt sich die Asyldebatte Großbritanniens schon seit längerem, jedenfalls innerhalb der konservativen Regierungspartei von Premier Rishi Sunak. Weil in den Jahren nach der Brexit-Entscheidung Zehntausende von Flüchtlingen in Schlauchbooten über den Ärmelkanal übersetzten und dabei Leib und Leben riskierten, will London einen Teil seines Asylverfahrens nach Ruanda verlagern. Wer "illegal" auf der Insel ankommt, soll umgehend in ein Flugzeug gesetzt und ohne Rückkehrmöglichkeit in das zentralafrikanische Land abgeschoben werden. Dort gebe es ein gültiges Asylverfahren mit anschließender Ansiedlung in Ruanda oder Rückkehr ins Herkunftsland.

Ausnahme für "außergewöhnliche Fälle"

Diesem Plan der früheren Innenministerinnen Priti Patel und Suella Braverman hat der Supreme Court im November einen vorläufigen Riegel vorgeschoben, was der derzeitige Ressortchef James Cleverly – wie seine Vorgängerinnen sowie der Premierminister selbst das Kind von Einwanderern – mit einem "Notstandsgesetz" beantwortete. Außerdem unterschrieb er ein neues Abkommen mit dem umstrittenen Regime von Präsident Paul Kagame, dem London bisher mindestens 290 Millionen Pfund, also rund 337 Millionen Euro, zugesagt hat. In Kigali angekommen, spottet Labours innenpolitische Sprecherin Yvette Cooper, sei "bisher kein einziger Asylwerber, dafür aber drei britische Innenminister".

Um den Einwänden des Supreme Court entgegenzukommen, hat Cleverly nicht nur die absurde Situation geschaffen, dass "in außergewöhnlichen Fällen" Ruanda die Asylwerber doch nach Großbritannien zurückschicken könnte. Zuvor aber soll das britische Parlament Ruanda einseitig zu einem "sicheren Drittstaat" erklären, wodurch britischen Gerichten die Hände gebunden wären. Den Betroffenen bliebe also nur noch der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg – eine paradoxe Situation für eine Regierung, die doch stets auf die Souveränität des britischen Parlaments pocht. Sunak und Cleverly steuerten das Land in eine "noch nie dagewesene Verfassungskrise", fürchtet der Cambridger Rechtsprofessor Mark Elliott.

Der Tory-Rechten um die gefeuerte Ex-Innenministerin Braverman ist selbst diese Situation noch nicht radikal genug, weshalb sie eine Woche lang gegen Cleverlys Entwurf trommelte. Sunak nahm die nationalistische Rechte so ernst, dass er vor der zweiten Lesung am Dienstagabend weite Teile seines Arbeitstags damit verbrachte, sich die Einwände diverser Fraktionsgrüppchen anzuhören.

Der frühere Hedgefonds-Manager unterliege einem Irrtum, warnt Kolumnist Janan Ganesh in der "Financial Times", wenn er seine Partei-Rechte wie rationale Marktteilnehmer behandelt: "In der Politik gibt es Leute, die keinem Deal zugänglich sind, jedenfalls nicht zu einem vernünftigen Preis." Am Ende enthielten sich die Möchtegernrebellen der Stimme, Sunak gewann die Abstimmung.

Gestrichene Entwicklungshilfen

Fragwürdig bleibt auch die Haltung der Londoner Medien, die jedem Fanatiker auf den Tory-Hinterbänken begeistert die Mikrophone hinhalten anstatt die Absurdität der bestehenden Regierungspläne zu analysieren oder die Ursachen für die gefährlichen Schlauchbootfahrten im Ärmelkanal zu benennen.

Seit Großbritannien die Solidarität innerhalb der EU aufgekündigt hat, kommen Zugeständnisse der nächsten Nachbarn Frankreich, Belgien und Niederlande erst nach zähen Verhandlungen – und teilweise Millionenzahlungen – zustande. Die gleiche Regierung, die über Migrantenströme jammert, hat die Entwicklungshilfe radikal zusammengestrichen und kürzlich ihre eigentlich vorbildliche Klimapolitik abgeschwächt. Auf dem internationalen Parkett zählt Londons Position, dem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat zum Trotz, immer weniger.

Davon ist wenig zu lesen und zu hören, dafür umso mehr über die neuesten Pläne des einstigen Brexit-Marktschreiers Nigel Farage. Auf dessen anhaltende Popularität schielen die Tory-Rechten, zumal die aus Ukip und Brexit-Party hervorgegangene Reform-Partei, die in den Umfragen zwischen acht und zehn Prozent erzielt. Das reicht zwar für kein Unterhausmandat, könnte aber die umfassende Niederlage der Torys in eine totale Katastrophe verwandeln.

Todeswunsch der Tory-Rebellen

Sunak will erst im kommenden Herbst wählen lassen in der Hoffnung, die nächsten Monate würden wirtschaftliche Linderung, womöglich sogar eine Reduzierung der Fluchtbewegung bringen. Hingegen scheinen die Tory-Rebellen von einem Todeswunsch getrieben zu sein. Der frühere Parteichef und Außenminister William Hague hat in der "Times" seine eigenen Erfahrungen aus der Erdrutschniederlage 1997 verarbeitet: Wie er damals fänden es auch die heutigen Abgeordneten "wirklich schwer sich vorzustellen, wie völlig uninteressant sie bald sein könnten".

Der Abgeordnete Richard Drax zählte am Dienstag zu den Abstinenzlern, die fürs neue Jahr weitere Rebellionen angekündigt haben. Dem Kampf gegen die internationalen Schlepperbanden ist damit nicht geholfen, von Drax' verstorbenem Wahlkreisbewohner ganz zu schweigen. (Sebastian Borger aus London, 13.12.2023)