Justizwachebeamte stehen im Verhandlungssaal rund um eine Rollbahre, auf der der querschnittgelähmte Angeklagte liegt.
Ein außergewöhnlicher Anblick bei einem Mordprozess: Der querschnittgelähmte Angeklagte wird von den Justizwachebeamten liegend in den Saal gerollt.
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Wien – Es ist ein weitverbreitetes falsches Sprachbild, dass man als Angeklagter vor Gericht steht. Die Zeiten, in denen man Aussagen tatsächlich noch aufrecht stehend machen musste, sind bereits lange vorbei, in der zeitgenössischen Justiz darf man vor dem Richtertisch sitzen. Oder liegen, wie im Fall des 35 Jahre alten Herrn H., der auf einer Bahre von einem Großaufgebot an Justizwachebeamten vor den Geschworenensenat unter Vorsitz von Sonja Weis gerollt wird. Der unbescholtene Syrer soll am 3. Juli in Wien-Ottakring seine trennungswillige Ehefrau ermordet haben, behauptet der Staatsanwalt. Anschließend versuchte der Angeklagte, sich das Leben zu nehmen – er scheiterte, nun ist er querschnittsgelähmt.

Der Vertreter der Anklage bereitet die Laienrichterinnen und -richter auf grässliche Beweise vor. Denn H. stach 19 Mal mit einem großen Küchenmesser auf seine Gattin, die gleichzeitig seine Cousine war, ein. "Ich habe absichtlich keine Tatortfotos für Sie an die Wand projiziert, ich verzichte auf den Effekt. Was sie hören und lesen werden, ist schlimm genug", kündigt der Staatsanwalt an.

Dann erzählt er über den Hintergrund des Paares. Im Jahr 2010 hatten sie in Syrien geheiratet, erste Familienmitglieder kamen im Jahr 2015 nach Österreich und holten im Zuge der Familienzusammenführung weitere Verwandte ins Land. Das damals schwangere Opfer erreichte im Jahr 2021 mit einem Kind Österreich, der Angeklagte wartete mit dem zweiten Spross in Griechenland. Erst im Frühsommer 2023 schaffte auch er es zu seiner Familie.

Kinder in den Park geschickt

Die gab es offenbar aber nicht mehr, so wie er es sich vorgestellt hatte. Die Ehefrau verhielt sich nach seiner Ankunft ihm gegenüber verschlossen und abweisend, erzählte der Angeklagte bei der Polizei. Schließlich habe sie ihm eröffnet, dass sie einen anderen Mann liebe. Am 3. Juli wollte der Unbescholtene das Thema offenbar nochmals besprechen. Zunächst rief er seine Schwägerin an und bat sie, mit den mittlerweile drei Kindern des Paares in den Park zu gehen. Nachdem die Kinder weg waren, kam es zu dem Gespräch, bei dem die Frau ankündigte, sich zu trennen. Sie rief ihre Mutter an, H. holte aus der Küche ein Messer und attackierte die Noch-Partnerin während des Telefonats.

"Er stach 19 Mal, wiederhole, 19 Mal zu!", erinnert der Staatsanwalt die Geschworenen und fordert eine Verurteilung wegen Mordes. Denn bei der Polizei antwortete der Angeklagte auf die Frage, warum er die Kinder nicht in der Wohnung wissen wollte: "Ich wollte nicht, dass sie sehen, wie ich ihre Mutter umbringe." Ein weiterer Satz aus der Einvernahme: "Was soll ich auch mit einer Frau, die mich nicht liebt?"

Der derzeit ziemlich beschäftigte Verteidiger Manfred Arbacher-Stöger stimmt den Ausführungen des Anklägers grundsätzlich zu, versucht aber Verständnis dafür zu wecken, in welcher Situation sich sein Mandant damals befand. "Sie kennen sich, seit sie klein sind, sie war seine große Liebe!", verkündet der Rechtsvertreter. Er bezweifelt jedoch ein wenig den Vorsatz. H. habe seine Gattin und das dritte Kind zwei Jahre lang nicht gesehen. Und als es schließlich zur Wiedervereinigung kam, habe sie gesagt, dass es aus sei. "Er war emotional im Ausnahmezustand!", ist sich Arbacher-Stöger sicher. "Ich habe mit ihm im Vorfeld natürlich gesprochen, er kann sich nur an vier Stiche erinnern", versucht der Verteidiger zu verdeutlichen, dass der Angeklagte von Sinnen gewesen sei.

Familie und Glaube als Credos

"Es gab für ihn zwei Credos. Die Familie, natürlich besonders seine Frau, seine Jugendliebe und den Glauben", verweist der Verteidiger auf einen anderen kulturellen Hintergrund des Angeklagten. Und er führt ein weiteres Argument an: "Sie dürfen nicht vergessen, er kommt aus einem Gebiet, wo Krieg herrscht. Was er in den vergangenen Jahren alles gesehen hat – er hat nie gelernt, wie man Konflikte richtig löst", gibt sich Arbacher-Stöger überzeugt. "Die Strafe ist nur eine Begleiterscheinung. Er hat schon sein Leben verloren und bereut, dass er überlebt hat", erklärt der Verteidiger noch, ehe er ankündigt, dass H. sich schuldig bekennen werde, darüber hinaus aber keine Angaben machen wolle.

Das Gericht lässt sich von seinem körperlichen Zustand möglicherweise beeinflussen und verurteilt H. nicht zu lebenslanger Haft, sondern rechtskräftig zu 20 Jahren Gefängnis. (Michael Möseneder, 13.12.2023)