"Es ist ein Skandal. Wir werden hier für jede Kleinigkeit belangt, und der Mörder darf einfach abhauen. Das Gesetz muss doch für jeden gleich sein." Mustafa ist ehrlich empört. Als Friseur spricht er mit vielen Menschen, und alle sind der gleichen Meinung: "So geht es nicht." Was in Istanbul derzeit für heftige Empörung sorgt, ist ein Verkehrsunfall mit fatalen Folgen.

Somalias Präsident Hassan Sheikh Mohamud und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2022 bei einer Pressekonferenz in Ankara.
Somalias Präsident Hassan Sheikh Mohamud und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2022 bei einer Pressekonferenz in Ankara. Die Bande sind eng.
IMAGO/Xinhua

Ende November wurde auf der Stadtautobahn auf der europäischen Seite von Istanbul ein Motorradkurier von einem Mercedes erfasst und quasi von der Straße gefegt. Der Kurier, Yunus Emre Göçer, ein 38-jähriger Vater von zwei kleinen Kindern, wurde in ein Krankenhaus gebracht, starb jedoch wenig später. Was diesen tragischen Unfall jedoch zu einem Politikum macht, ist der Unfallverursacher: Mohamed Hassan Sheikh Mohamud, Sohn des Präsidenten von Somalia, Hassan Sheikh Mohamud.

Er war mit dem Diplomatenwagen der somalischen Botschaft unterwegs, was der Verkehrspolizei offenbar gehörigen Respekt abnötigte. Der Sohn des Präsidenten wurde auf der Wache kurz befragt und dann als angeblich schuldlos an dem Unfall wieder gehen gelassen. Um den Unfall vollends zu vertuschen, wurde der Witwe von Emre Göçer von der Polizei erzählt, ihr Mann habe Suizid begangen. Doch als diese dann zum Krankenhaus kam, hatten sich dort bereits fast tausend Motorradkuriere eingefunden, die gehört hatten, dass ihr Kollege bei einem Unfall getötet worden war und die nun Aufklärung verlangten.

Nach Dubai geflüchtet

In dieser Situation schaltete sich der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, ein und ließ das Video der Straßenüberwachung von dem Unfall veröffentlichen. Darauf ist zweifelsfrei zu sehen, dass der Kurier ohne eigenes Verschulden von dem Mercedes in voller Fahrt erfasst und zur Seite geschleudert wird. Daraufhin war die Empörung groß, doch als die Justiz dann aufgrund des massiven öffentlichen Drucks einen Haftbefehl gegen Mohamed Hassan Sheikh Mohamud erließ, war dieser nicht mehr auffindbar. Später stellte sich heraus, dass er längst die Flucht ergriffen hatte und nach Dubai ausgeflogen war.

Dann machten die Gewerkschaften und die Opposition Druck. "Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Arbeitnehmer", sagte İmamoğlu, und der linke Gewerkschaftsdachverband demonstrierte vor den Toren des somalischen Konsulats in Istanbul. Die Staatsanwaltschaft erließ daraufhin einen internationalen Haftbefehl, doch aus Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, kommt keinerlei Reaktion. Für die türkische Regierung droht der Unfall mit Fahrerflucht zu einem politischen Fiasko zu werden. Denn Somalia ist für die Türkei nicht irgendein Land, sondern das wichtigste Standbein für Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Afrika. Über Somalia, wo die Türkei ihre größte Botschaft weltweit betreibt, soll Afrika für die türkische Wirtschaft erschlossen werden. Präsident Hassan Sheikh Mohamud ist dafür ein unerlässlicher Partner.

In keinem Land in Afrika ist die Türkei so engagiert wie im krisengeschüttelten Somalia. Als 2011 tausende Menschen einer verheerenden Dürre zum Opfer fielen, das Land in weiten Teilen noch von der islamistischen Miliz al-Shabaab beherrscht wurde und sich deshalb kaum ein Ausländer ins Land traute, flog Erdoğan samt seiner Frau und etlichen Ministern nach Mogadischu, um das bis dahin größte türkische Hilfsprogramm im Ausland für die muslimischen Brüder und Schwestern am Horn von Afrika in Gang zu setzen.

Türkisches Engagement in Somalia

Seitdem ist die Türkei in Somalia an vorderster Front tätig. Türkisches Militär hat eine große Garnison eingerichtet und trainiert nun somalische Soldaten für den Antiterrorkampf gegen al-Shabaab. Türkische Firmen betreiben den Flughafen und den Hafen von Mogadischu. Präsident Hassan Sheikh Mohamud, der seit Juni 2022 im Amt ist, war schon von 2012 bis 2017 Präsident und ist ein guter Bekannter von Erdoğan. Dass sein Sohn in der Türkei lebt, ist deshalb kein Zufall.

Empörte Demonstranten haben mittlerweile ein "Wanted"-Plakat an der Mauer der somalischen Vertretung angebracht, und İmamoğlu verkündete: "Wir werden diesen Fall verfolgen, bis unseren Arbeitern Gerechtigkeit widerfährt." In ihrer Not hat die Regierung nun angekündigt, die Polizisten anzuklagen, die den Präsidentensohn nach dem Unfall laufen ließen. Doch von so einem durchsichtigen Manöver wollen sich die Gewerkschaften nicht ablenken lassen. "Wir machen weiter, bis der Unfallverursacher hier vor Gericht steht", sagte ein Gewerkschaftssprecher am Mittwoch vor dem somalischen Konsulat in Istanbul. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 14.12.2023)