Gedenkveranstaltung in Tel Aviv
Gedenkveranstaltung in Tel Aviv für die getöteten Geiseln – und die Forderung nach der Freilassung der noch lebenden.
REUTERS/VIOLETA SANTOS MOURA

Ihre Rettung war nur noch wenige Meter entfernt: Nach 70 Tagen in Hamas-Gewalt war es drei Israelis in Gaza gelungen, sich zu befreien. Am Freitag sahen Yotam Chaim, Alon Schamriz und Samer Al-Talalka die israelischen Truppen in Shejaiya herannahen, schwenkten eine weiße Stoffbahn und riefen auf Hebräisch: "Rettet uns!" Statt Freiheit fanden sie aber den Tod: Ein Soldat – offenbar in Panik, weil er fürchtete, von der Hamas in eine Falle gelockt worden zu sein – schoss auf die Landsleute. Als man erkannte, dass es sich um Geiseln handelte, war es schon zu spät.

Am Samstag gab die Armee bekannt, dass die Soldaten das Feuer befehlswidrig eröffnet hatten. Ihr Kommandant hatte befohlen, die Operation gegen die vermeintlichen Terroristen einzustellen. Er wurde nicht gehört.

Dass auf die Geiseln geschossen wurde, widersprach den Einsatzregeln, betonte Generalstabschef Herzi Halevi am Samstag. "Es ist verboten, auf jemanden zu schießen, der eine weiße Flagge zeigt." Der Vorfall sei jedoch "inmitten des Nahkampfs und unter Druck" passiert. Man werde daraus die nötigen Lehren ziehen.

Demo in Tel Aviv

Den Angehörigen reicht das nicht. Die Plattform der Geiselfamilien ist in den zweieinhalb Monaten seit dem 7. Oktober zu einer lautstarken politischen Bewegung herangewachsen, sie erfährt auch in der Gesellschaft immer mehr Unterstützung. Am Samstag demonstrierten rund hunderttausend Menschen in Tel Aviv, um das Kriegskabinett zu neuen Verhandlungen mit der Hamas zu bewegen.

Mehrere der vor drei Wochen freigelassenen Geiseln traten auf. "Jeden Morgen, wenn ich aufwache, wachen die Geiseln in der Dunkelheit auf", sagte Danielle Aloni, die nach 49 Tagen gemeinsam mit ihrer Tochter Emilia freigelassen wurde. "Wenn ich esse, denke ich darüber nach, was sie essen und ob sie überhaupt etwas zu essen haben. Ich rufe das Kriegskabinett auf: Initiiert einen Deal, macht ein Angebot. Bringt sie zurück nach Hause. Jetzt!"

In der rechtsnationalen Regierung unter Benjamin Netanjahu finden die Geiseln nur wenig Gehör. Die Nachricht vom Tod der drei Geiseln habe ihm "das Herz gebrochen", sagte der Premier, fügte aber hinzu: "Jeder, der einmal an der Front gekämpft hat, weiß, dass Sieg und Desaster nur eine Haaresbreite voneinander entfernt sind." Israels militärischer Druck auf die Hamas dürfe nicht aufhören, betonte Netanjahu.

"Schwerer Fehler"

Sein Parteikollege Nissim Vaturi erklärte später, ein neuer Deal zur Freilassung weiterer Geiseln wäre "ein schwerer Fehler, der der Hamas in die Hände spielt. Keiner wird zustimmen, den Krieg zu stoppen."

Premier Benjamin Netanjahu immer stärker unter Druck.
Premier Benjamin Netanjahu gerät immer stärker unter Druck.
AP/Menahem Kahana

Netanjahu steht unter Druck – und das von zwei Seiten: den Familien der Geiseln hier, den Hardlinern in seiner Regierung da. Dass die überwiegende Mehrheit der Geiseln der liberaleren Hälfte der Gesellschaft und damit dem Antiregierungslager angehört, könnte beim Kalkül der Koalition eine Rolle spielen. Ein starker Einsatz für die Geiseln bringt ihnen im eigenen Lager wenig Applaus, dafür viel Kritik angesichts der dafür erforderlichen Zugeständnisse an die Hamas. Den rechten Fundis stehen seit der Erweiterung der Koalition aber die moderateren Realos rund um Benny Gantz gegenüber, die im Austausch mit der Geiselplattform stehen.

Ihnen könnte es zu verdanken sein, dass Mossad-Chef David Barnea nun erneut nach Katar geschickt wurde, um über einen möglichen zweiten Geiseldeal zu verhandeln. Die Hamas verlangt dafür zumindest eine temporäre Waffenruhe.

"Auftrag zu kämpfen"

Was Netanjahu davon hält, ließ er am Sonntag die anwesenden Minister in der Regierungssitzung wissen. Er zitierte dort aus einem Brief, den er von "dutzenden Angehörigen gefallener Soldaten" erhalten habe und der ihm in der Hitze des Arguments wohl ganz gelegen kommt. Die Hinterbliebenen schreiben: "Ihr habt den Auftrag zu kämpfen. Ihr habt keinen Auftrag, mittendrin aufzuhören." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 17.12.2023)