Sebastian Prödl: "Es ist ein schwieriges Szenario. Für David und für den österreichischen Fußball."
ServusTV/Philipp Carl Riedl

Ein scheinbar harmloser Stolperer hat am Sonntagabend gereicht, um die Fußballfans in Österreich genauso wie Real Madrids Anhang weltweit in Schock zu versetzen. David Alabas Missgeschick beim 4:1-Heimsieg gegen Villarreal zeitigte einen Riss des vorderen Kreuzbandes im linken Knie und lässt damit auch die Teilnahme an der EM (14. Juni bis 14. Juli) stark wackeln. Ex-Teamspieler Sebastian Prödl schätzt im Gespräch mit dem STANDARD die Lage der Fußballnation ein.

STANDARD: Unsere Leser sprechen nach der Verletzung von David Alaba von einem "Super-GAU" für das Nationalteam. Ist dem so?

Prödl: Es ist eine ganz bittere Pille. Die Verletzung ist eine Katastrophe. Von einem Super-GAU würde ich erst sprechen, wenn er tatsächlich die Euro versäumt. David ist nicht nur ein starker Charakter, sondern verfügt auch über einen sehr starken Körper. Ich habe noch eine leise Hoffnung. Wir dürfen jetzt nicht die Nerven wegschmeißen, nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ich vertraue der Medizin und seinem Willen.

STANDARD: Aber die ohnehin schon komplizierte Aufgabe wird nicht einfacher.

Prödl: Es ist ein schwieriges Szenario. Für David und für den österreichischen Fußball. Alles, was mit Druck verbunden ist, bringt auch Gefahren. Und der Zeitdruck ist jetzt groß. Aber ich erinnere an Julian Baumgartlinger. Er hat es trotz Problemen mit dem Knie zur Euro 2021 geschafft. Auch wenn er dort nur kurz zum Einsatz gekommen ist, war seine Präsenz für die Mannschaft wichtig.

STANDARD: Sie blieben in Ihrer Karriere von einem Kreuzbandriss verschont. Haben Sie Kollegen gesehen, die nach sechs Monaten wieder einsatzbereit waren?

Prödl: Es gibt mehrere Varianten. Es können vier, sechs, acht oder neun Monate sein. Je nach Komplikation, je nach Zustand des restlichen Knies. Ich bin kein Arzt und möchte keine Ferndiagnose stellen. Wir haben genau sechs Monate bis zum ersten Match gegen Frankreich. Dieser Zeitrahmen lässt noch Platz für Optimismus.

David Alaba musste den Platz am Sonntag verletzt verlassen.
REUTERS/ISABEL INFANTES

STANDARD: Viele Beobachter meinen, Alaba sei der einzige unersetzbare Spieler im ÖFB-Team. Ist das korrekt?

Prödl: Unsere stärkste Leistung mit den stärksten Spielern hat bei mir zuletzt großes Vertrauen in die Mannschaft geweckt. Ich habe Alaba in den vergangenen Monaten aufgrund seiner Führungsqualitäten immer hervorgehoben. Er ist herausragend. Ein Ausfall kann ganz entscheidend sein. Er führt nachweisbar die Viererkette. Als Kapitän nimmt er auch neben dem Platz eine essenzielle Rolle ein. Am Platz ist er ein wertvolles Asset, das schwer ersetzbar ist. Da brauchen wir nicht herumdiskutieren.

STANDARD: Ist David Alaba der beste Kicker, den Österreich je hatte?

Prödl: Mit Abstand. Schauen wir uns seine Leistungen, seine Erfolge, seine Vereine und seine Kontinuität an. Das wird niemand so schnell wieder erreichen. Ja, wir hatten Helden wie Hans Krankl, Herbert Prohaska und Toni Polster. Sie werden zu Recht verehrt. Aber Alaba ist eine andere Liga.

STANDARD: Wie wichtig ist ein Spieler dieser Güteklasse für die Teamkollegen?

Prödl: Extrem wichtig. Es gibt eine Struktur in der Mannschaft, eine Hierarchie. Wie in einem Unternehmen. An so einem Spieler können sich die Teamkollegen hochziehen. An ihm kann man sich messen. Er führt, er macht die anderen besser. Selbst wenn er bei der Euro nicht zum Einsatz kommen sollte, kann er der Mannschaft helfen. Mit seinen Worten, mit seiner Erfahrung.

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STANDARD: Wie könnte eine österreichische Defensive ohne Alaba aussehen?

Prödl: Für eine Prognose ist es noch zu früh. Wenn man die Bestbesetzung nicht zur Verfügung hat, müssen andere zur Bestbesetzung werden. In der Innenverteidigung haben wir einige Optionen. Da kann sich der eine oder andere noch entwickeln, in eine Führungsrolle hineinwachsen. Wir sind nicht alternativlos.

STANDARD: Bei allem Respekt vor Einzelspielern – bleibt Fußball nicht trotzdem ein Mannschaftssport?

Prödl: Das Ensemble macht es aus. David Alaba war immer einer der Stärksten in diesem Ensemble, deshalb ist der Schock jetzt groß. Aber wir haben auch einen Kevin Danso, Philipp Lienhart, Stefan Posch und Maxi Wöber, die alle den nächsten Schritt machen können. Ich vertraue auch dem Personal. Die spielen in europäischen Top-Ligen und performen Woche für Woche.

STANDARD: Noch ein Zitat aus unserem Forum: "Die Kadertiefe ist der Fluch der kleineren Nationen." Sehen Sie das auch so?

Prödl: Nein. Wir sind in Österreich gerne himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Wir haben eine Tiefe im Kader, eine gute Tiefe. Im Fußball sind wir keine kleine Nation. (Philip Bauer, 18.12.2023)