Frische Gräber mit bunten Kränzen.
Die frischen Gräber erinnern an den tödlichen Angriff aus Russland.
Olga Ivashchenko

Vor dem dichten Nebel wirken die bunten Plastikblumen auf dem Friedhof noch greller. Die Kränze aus Rosen und Nelken liegen dicht an dicht, so wie die frischen Gräber selbst. Dutzende Menschen wurden vor kurzem hier in Hrosa begraben. Männer, Frauen, ein achtjähriger Junge. Die Geburtsjahre auf den Holzkreuzen reichen Jahrzehnte zurück, nur das Todesdatum bleibt immer dasselbe.

Anfang Oktober wurden im Dreihundert-Einwohner-Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw bei einem russischen Raketenangriff 59 Zivilisten getötet, die an einer Trauerfeier für den Soldaten Andriy Kozyr teilnahmen. Kozyr war bereits im vergangenen Jahr an der Front im Osten gefallen und sollte endlich in seinem Heimatort begraben werden. Die russische Iskander-Rakete, die am frühen Nachmittag des 5. Oktober das Dorfcafé traf, in dem sich die Angehörigen zusammenfanden, löschte beinahe seine ganze Familie aus. Sie tötete Kozyrs Sohn, seine Frau, Mutter und ihre Eltern.

Als er die Explosion von weitem hörte, sei er sofort von der Arbeit auf dem Feld zurück ins Dorf gefahren, erzählt Wassyl Pletinka, der mit seiner Frau Ljubow gegenüber dem Café wohnt. Mehr als zwei Monate sind seit dem Anschlag vergangen, doch vor dem einstöckigen Gebäude, das in Schutt und Asche gelegt wurde, liegen noch immer Verbandsmaterial und Kleidung. Ein weißer Sneaker, eine Jacke, die verwelkten Blumen der Trauerfeier für Andriy Kozyr.

Jede Familie betroffen

Pletinka sitzt auf der Parkbank vor seinem Haus, das seit der Explosion keine Fenster mehr hat, sondern Spanplatten, die vor der Kälte schützen sollen. Starr blickt er auf die Trümmer. Eine unbefestigte Straße trennt sein Haus von der Ruine. Die Rakete hätte auch ihn und seine Frau töten können. "Wir haben versucht, die Menschen zu retten, bis die Feuerwehr und die Polizei aus den Nachbarorten kamen", sagt der 64-Jährige. "Wir kannten alle, die gestorben sind. Wir sind ein kleines Dorf." Jeden Tag, wenn er das Haus verlässt, müsse er an diesen Moment denken. Ljubow Pletinka, seine Frau, erzählt, dass ihre Cousins und Freunde gestorben sind. "Das sind die Menschen, mit denen wir unser ganzes Leben lang zusammengelebt haben." Die 62-Jährige übernimmt das Gespräch, während ihr Ehemann auf einem alten Fahrrad zu einem Verteilerpunkt für humanitäre Hilfsgüter fährt. "Jeder hier ist mittlerweile auf diese Unterstützung angewiesen", sagt Ljubow Pletinka.

Das Dorfcafé sei gleichzeitig auch ein kleiner Supermarkt gewesen, sagt die Frau. Jetzt gibt es in Hrosa nur noch einen kleinen Kiosk, doch der habe meistens geschlossen. Sie erzählt, dass es einmal eine Zeit gab, in der die Menschen in Hrosa glücklich waren und freundlich. Die Gemüsegärten reichten vielen hier zur Selbstversorgung. Der Boden in der Gegend ist fruchtbar und brachte Arbeit. "Heutzutage gehen die Leute nicht mehr viel raus. Sie verlassen ihre Häuser nicht mehr, weil sie Angst haben", sagt sie.

Wassyl und Ljubow Pletinka.
Olga Ivashchenko

Der Anschlag auf Hrosa zählt zu den grausamsten seit langem und sorgte landesweit für großes Entsetzen. Laut dem ukrainischen Innenminister Ihor Klymenko ist jede Familie in dem Dorf betroffen, hat jemanden verloren oder zumindest jemanden gekannt, der getötet wurde. Journalisten und andere Augenzeugen, die nach dem Anschlag vor Ort waren, beschreiben Szenen wie aus einem Horrorfilm, berichten von Gliedmaßen, die überall verteilet lagen, von dem großen Schock und der Schwierigkeit, die Überreste zu bergen und die Opfer zu identifizieren. Mehr als einen Monat später erzählt Ljubow Pletinka von ihrer großen Wut auf die russischen Angreifer, die das Dorf im vergangenen Jahr mehrere Monate lang besetzt hatten. Doch verantwortlich für die Tat macht sie, so wie die Staatsanwaltschaft Charkiw und der ukrainische Geheimdienst (SBU) auch, nicht nur die.

Ein Netz von Informanten?

Hrosa war einer jener Orte, die nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 besetzt und im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen September befreit wurden. "Ich hätte mir nie vorstellen können, dass die Menschen hier so gespalten sind", sagt Ljubow Pletinka. Sie schätzt, dass die Hälfte der Menschen in Hrosa die Russen unterstützt oder ihnen geholfen hat, indem sie sie mit Lebensmitteln versorgt haben. Und dann soll es noch jene gegeben haben, die direkt mit ihnen zusammengearbeitet haben. Darunter der 30-jährige Wladimir Mamon und sein jüngerer Bruder, der 23-jährigen Dmitri Mamon, die noch am Vorabend der Befreiung mit ihren Familien nach Russland geflohen sein sollen. Gegen die beiden Männer, die vor dem Krieg als Polizisten in dieser Gegend gearbeitet haben, laufen aufgrund ihrer Kollaboration schon seit Monaten Ermittlungen. Sie sollen unter anderem gemeinsam mit den Besatzern in den Straßen patrouilliert haben.

Doch laut der Facebook-Stellungnahme der Behörden sollen die beiden Männer auch nach ihrer Flucht in das nur rund 60 Kilometer Luftlinie entfernte Russland mit den Dorfbewohnern freundschaftliche Beziehungen gepflegt haben. Der SBU spricht von einem Informantennetzwerk, über das die beiden Informationen über Stellungen und die Aktivitäten der ukrainischen Armee in Erfahrung gebracht haben sollen. "Die Bewohner begriffen nicht, dass die Brüder unter dem Deckmantel unauffälliger Gespräche in Wirklichkeit subversive Aktivitäten gegen die Ukraine durchführten", heißt es in einer Stellungnahme der Charkiwer Staatsanwaltschaft. Durch diese Methoden sollen sie auch vom Zeitpunkt und Ort der Trauerfeier erfahren und die Koordinaten an die Angreifer weitergegeben haben.

Vom Dorfcafé blieb nur eine Ruine.
Olga Ivashchenko

Vielleicht, so spekulieren manche Beobachter, war die Annahme, dass viele Soldaten bei der Trauerfeier anwesend sein könnten. Solche Treffen oder Ehrungen werden schließlich immer wieder angegriffen. Erst Anfang November starben in der Oblast Saporischschja neunzehn Soldaten der 128. Gebirgsjägerbrigade während einer Ehrung nahe der Front. Der neue ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow teilte vor kurzem mit, die Tragödie hätte verhindert werden können, wären nicht alle Regeln der Tarnung ignoriert worden: "Mehr als zehn Autos waren in der Nähe geparkt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich eine russische Aufklärungsdrohne am Himmel", so Umjerow auf Facebook. Am Ort der Preisverleihung seien keine zentralen Sicherheitsmaßnahmen ergriffen worden.

"Mörder haben einen Namen"

Kürzlich veröffentlichte Chatprotokolle zwischen den Mamon-Brüdern und Dorfbewohner sollen derweil beweisen, dass die beiden Männer von der Anwesenheit der Zivilisten bei der Trauerfeier in Hrosa wussten. Die Charkiwer Staatsanwaltschaft weist in ihrer Stellungnahme zwar auf die für die beiden Männer geltende Unschuldsvermutung hin. Doch bereits wenige Tage nach dem Anschlag tauchten in Hrosa und den umliegenden Ortschaften Plakate mit dem Gesicht und vollem Namen von Wladimir Mamon auf. "Mörder haben einen Namen", steht drüber. Eines hängt sogar in einer ehemaligen Bushaltestelle in der Nähe eines militärischen Checkpoints, von denen es in dieser Gegend viele gibt. Wer die Banner veranlasst, gedruckt und aufgehängt hat, ist unklar.

Auf mehrere Anfragen des STANDARD zu den Plakaten sowie dem Stand der Ermittlungen reagiert die Staatsanwaltschaft Charkiw nicht. Auch die Bewohner von Hrosa sagen, sie wüssten nicht, woher die Plakate stammen. Nur dass eines auch im Zentrum des Dorfes aufgetaucht sei und bereits in der ersten Nacht von Unbekannten wieder heruntergerissen wurde, berichtet eine freiwillige Helferin. Die Frau, die sich als Dina vorstellt, zeigt auf die Stelle an der Außenmauer des Gebäudes, in dem sie Lebensmittel verteilt. So wie viele, die an diesem Tag im November vor Ort sind, hat auch Dina Angst vor weiteren Angriffen und bittet darum, weder ihre persönlichen Daten noch eine genaue Beschreibung oder die Adresse des Gebäudes, in dem sie arbeitet, zu veröffentlichen.

Auch sie verlor Angehörige: Ljuba Kozyr.
Olga Ivashchenko

Eine der Bewohnerinnen, die an diesem Tag Lebensmittel abholen, ist Ljuba Kozyr, die mit dem gefallenen Soldaten Andrij Kozyr zwar den Nachnamen teilt, aber nicht direkt mit ihm verwandt ist. Die 55-Jährige erzählt, dass beim Anschlag ihre eigene Tochter, der Schwiegersohn, ihre Schwiegereltern sowie die Eltern des Schwiegersohns und drei Freunde getötet wurden. Sie selbst war mit ihrem Mann zum Zeitpunkt der Trauerfeier bei sich zu Hause. "Wir alle hier kennen die Mamon-Brüder", sagt sie. Die Wut und Trauer seien groß, sie selbst habe viele Fragen. "Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand, der hier aufgewachsen ist, absichtlich Informationen weitergegeben hat." Persönlich kannte Ljuba Kozyr nur den älteren Bruder, Wladimir, über den die Menschen im Dorf erzählen, dass er ein grausamer Mensch sei. Einer, der die Bewohner während der Besatzung verspottete. Doch egal wie sie sich fühle, sagt Kozyr, nichts und niemand werde ihre Familie zurückbringen. (Text: Daniela Prugger, Fotos: Olga Ivashchenko, 25.12.2023)