Demonstranten stehen auf einem Monument.
Eine zentrale Forderung der sozialen Unruhen in Chile ab 2019 war die Einführung einer neuen Verfassung.
Francisco Arias via www.imago-im

Chile hat bereits zum zweiten Mal über eine Erneuerung der Verfassung abgestimmt. Im Rahmen eines Referendums am Sonntag wurde der konservativ geprägte Entwurf mit 55,7 Prozent abgelehnt, wie die Wahlkommission nach Auszählung von 95 Prozent der Stimmen am Abend bekanntgab.

Das erste Mal abgestimmt wurde bereits vor über einem Jahr: Damals entschied sich die chilenische Bevölkerung gegen einen progressiveren Verfassungsentwurf, der sich vor allem auf soziale Gerechtigkeit, Ausweitung von Minderheitsrechten und ökologische Aspekte konzentriert hatte. Als Impulsgeber für die Erstellung einer neuen Verfassung galten soziale Unruhen im Jahr 2019.

Ersetzt werden sollte bereits damals die derzeitige Verfassung, die noch aus der Zeit unter Diktator Augusto Pinochet stammt. Diese war – wenn auch nur in wirtschaftlicher Hinsicht – vorwiegend liberal ausgerichtet, die Aufgaben des Staates wurden auf ein Minimum reduziert, vieles wurde privatisiert. Das Bildungs- und Gesundheitssystem etwa oder das Wasser, welches in Chile nicht als öffentliches Gut gilt, sondern ebenfalls als privates.

Kritik von links

Der nun abgelehnte Entwurf wiederum traf im Vorfeld insbesondere bei linken Kräften auf Kritik, so auch bei der derzeitigen Regierung unter Präsident Gabriel Boric. Der vom Verfassungsrat erstellte Vorschlag sah unter anderem strengere Regeln für Einwanderung und die Einschränkung des Rechts auf Abtreibung vor. Auch das Streikrecht und die Rechte der indigenen Bevölkerung sollten darin beschnitten werden.

Obwohl die Ablehnung des Verfassungsvorschlags als Sieg für Boric gewertet werden könnte, sah dieser sich zuvor auf anderen Gebieten immer wieder mit Kritik konfrontiert. Grund dafür sind einerseits Korruptionsvorwürfe, andererseits ein Anstieg der Kriminalität, wofür einige die Regierung zur Verantwortung ziehen. Die Konsequenz wurde bei einer Umfrage im Dezember deutlich: Boric kam auf eine Zustimmungsrate von nur rund 33 Prozent. Mit Blick auf die Zukunft schloss er im Anschluss an das Ergebnis nun ein erneutes Referendum aus. Er wolle vor allem die Renten- und die Steuerreform durch die Legislative vorantreiben.

Kriminalität im Fokus

Nach Angaben des staatlichen Statistikinstituts Chiles sei insbesondere die Wahrnehmung der Kriminalität auf ein Rekordhoch gestiegen. Diese gehe zwar mit einem tatsächlichen Anstieg der Kriminalität einher, werde aber auch durch die überwiegend negative Berichterstattung der privaten Radio- und Fernsehsender verstärkt. Dass die Kriminalität gestiegen sei, bestätigt allerdings auch die Nationale Handelskammer in der Hauptstadt Santiago: Im ersten Halbjahr 2022 sollen laut einer Umfrage unter Ladenbesitzern knapp 60 Prozent der Befragten Opfer von Diebstahl, Raub oder Gewalt geworden sein. Neben der steigenden Gewalt sei die Bevölkerung laut Experten auch aufgrund der vermehrten Zuwanderung aus Venezuela und anderen Nachbarländern verunsichert, wobei dieses Gefühl insbesondere von rechten Parteien ausgenutzt werde.

Ein langer Weg

Der Plan, eine neue Verfassung einzuführen, wurde insbesondere vor dem Hintergrund gewaltsamer Proteste im Jahr 2019 getroffen. Als im Oktober desselben Jahres die Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel in Chile angehoben wurden, galt dies als Impuls für tagelange Ausschreitungen. Zuvor habe sich laut Berichten bereits Unmut in der Bevölkerung aufgestaut, etwa als Konsequenz des privatisierten Bildungs- und Gesundheitssystems oder zu niedriger Löhne und Pensionen. Nachdem Ende Oktober 2019 mehr als eine Million Menschen an Demonstrationen teilgenommen hatten, gab der damalige Präsident Sebastián Piñera bekannt, einen Kabinettswechsel einzuleiten. Einige Wochen später wurde der Prozess zur Verfassungserneuerung angestoßen.

Trotz solider Wirtschaftsleistung gehört Chile laut Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung noch immer zu den Ländern mit der höchsten Ungleichheit in Lateinamerika. Als langfristige Herausforderung sehe man die Einführung umfassender wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen. (Vanessa Steiner, 18.12.2023)