Nahaufnahme von den Händen einer älteren Frau, im Hintergrund ein glitzernder Weihnachtsbaum
Zu Weihnachten verspüren viele Menschen ein Gefühl der Einsamkeit – auch manche, die technisch gesehen gar nicht alleine sind. Das hat auch mit dem Idealbild vom Weihnachtsfest, an dem alle glücklich sind, zu tun.
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Mit den Feiertagen schleicht sich bei manchen ein Gefühl der Schwere ein: Wer jetzt allein ist, der hat versagt. "Das Idealbild vom gemeinsamen Weihnachtsfest befeuert die Einsamkeit", sagt Karin Gutiérrez-Lobos, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und Initiatorin der "Plattform gegen Einsamkeit".

Das Gefühl ist aber nicht auf die Festtage beschränkt, auch unterm Jahr fühlen sich immer mehr Menschen einsam, im Schnitt jede zehnte Person. Viele Ältere und einkommensschwache Personen kennen dieses Gefühl, aber nicht nur: "Teilweise sind junge Erwachsene stärker davon betroffen als Hochbetagte", berichtet Gutiérrez-Lobos.

Eine von vier Personen, quer über alle Generationen, wünscht sich mehr Beziehungen. Krisen wie Pandemie und Teuerung verstärken diese Entwicklung. Einsamkeit ist daher kein rein individuelles Problem, auch die Politik ist gefordert.

STANDARD: Viele kennen Einsamkeit, trotzdem ist sie schwer greifbar. Wie wirkt sich das Gefühl aus?

Gutiérrez-Lobos: Einsamkeit steht für das Gefühl, dass man mit den vorhandenen Beziehungen nicht zufrieden ist. Entweder weil es zu wenige sind oder die vorhandenen nicht tief genug gehen. Wir erleben das alle irgendwann im Lauf des Lebens, das beginnt oft schon in der Pubertät. Meist sind es aber kurze Episoden. Die machen einen dann traurig und können Stress auslösen.
Das kommt daher, dass Kontakte zu anderen Menschen evolutionstechnisch überlebenswichtig sind, denken Sie an Babys. In der Forschung ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass der Mangel an Kontakten ein ähnliches Gefühl wie Hunger oder Durst auslösen kann. Einsamkeit alarmiert und möchte uns sagen, dass wir wieder in Verbindung treten sollen.

STANDARD: Sind Menschen in Partnerschaften dann weniger einsam?

Gutiérrez-Lobos: Nicht zwingend. Manche sind zwar von anderen umgeben, aber sie fühlen sich trotzdem einsam. Gleichzeitig kann man allein leben, ohne sich einsam zu fühlen. Viele kennen den Sketch Dinner for One, der oft zu Silvester gezeigt wird. Es geht um die hochbetagte Miss Sophie, deren Freunde alle schon gestorben sind. Dennoch ist sie nicht einsam, weil sie sich nach wie vor mit ihnen verbunden fühlt.
Aber wenn man keine echte Verbundenheit spürt, kann man sich auch unter 20 Menschen einsam fühlen. Gesamtgesellschaftlich sehen wir dieses Phänomen häufig bei Minderheiten, etwa Menschen mit Behinderung oder bei Migrantinnen und Migranten. Sie leben zwar in unserer Gesellschaft, erfahren aber nicht dieselbe Wertschätzung wie andere. Einsamkeit hat ja viel mit sozialer Teilhabe zu tun.

STANDARD: Das heißt, es ist auch ein politisches Thema? In England gibt es einen Minister for Loneliness. Ist das ein guter Ansatz?

Gutiérrez-Lobos: Die Politik kann viel machen, aber das Einsamkeitsministerium sehe ich trotzdem kritisch. Das wurde eingeführt, nachdem viele Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe eingeschränkt wurden. Es wirkt für mich so, als ob man damit die Menschen selbst für ihre Einsamkeit verantwortlich machen möchte. Es wird so dargestellt, dass soziale Teilhabe ein politisches Thema ist, Einsamkeit dagegen ist ein individuelles Problem. Wenn man also nicht mehr von Teilhabe spricht, sondern von Einsamkeit, ist die Politik quasi aus dem Schneider.
Einsamkeit ist aber eine Querschnittsmaterie, man muss das Thema in vielen Bereichen mitdenken, beispielsweise in der Kommunalpolitik. Es gibt etwa manche Gemeinden in Österreich, die keinen Supermarkt mehr haben, kein Wirtshaus, keine Post, nichts. Das sind aber lauter Plätze, wo sich Menschen treffen und niederschwellig miteinander in Kontakt treten können.

Portraitfoto Karin Gutiérrez-Lobos
Karin Gutiérrez-Lobos (66) ist Psychiaterin und Neurologin. Sie hat zu Beginn der Coronapandemie die Plattform gegen Einsamkeit mitinitiiert, um das Thema zu enttabuisieren und hilfreiche Initiativen bekannter zu machen. Es ist höchste Zeit, das Thema Einsamkeit zu enttabuisieren, findet sie.
Gutiérrez-Lobos

STANDARD: Aber die Kontakte aus der Warteschlange bei der Post sind doch eher oberflächlich, oder?

Gutiérrez-Lobos: Ja, aber daraus kann sich mehr entwickeln. Vielleicht erzählt mir die Frau, die ich dort immer wieder treffe, eines Tages von einer Gruppe, die sich einmal pro Woche zum Wandern trifft. Diese Art von Informationsaustausch ist wichtig.

STANDARD:Manche Menschen können eigentlich gut allein sein, aber zu den Feiertagen schleicht sich dann doch die Einsamkeit ein. Warum ist das so?

Gutiérrez-Lobos: Weihnachten wird als das glückliche Fest dargestellt, bei dem sich alle gernhaben und es keine Konflikte gibt. Obwohl eh alle wissen, dass das nicht so ist, befeuert dieses Idealbild das Gefühl des Ausgeschlossenseins. Damit wird vermittelt, dass man versagt hat, wenn man zu Weihnachten allein zu Hause sitzt. Und man darf nicht vergessen, dass Einsamkeit auch viel mit Scham zu tun hat.

STANDARD: Warum ist das Thema so schambehaftet? Schließlich geht es ja ganz vielen Menschen so ...

Gutiérrez-Lobos: Wir leben in neoliberalen Zeiten, wir müssen immer funktionieren. Verbundenheit bedeutet im Grunde auch Abhängigkeit von anderen und das ist in diesem System nicht erwünscht. Deshalb wird es mit Schwäche und Versagen assoziiert, wenn man sich einsam fühlt. Betroffene denken dann: "Na ja, mit mir muss irgendwas nicht stimmen."

STANDARD: Einsamkeit ist auch schlecht für die Gesundheit. Studien zeigen etwa, dass einsame Menschen ein höheres Sterberisiko haben ...

Gutiérrez-Lobos: Ja, das Risiko erhöht sich über Umwege. Einsame Menschen rauchen eher, trinken mehr Alkohol, essen mehr. Das sind alles Auslöser für Adipositas, Diabetes oder andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

STANDARD: Wie merkt man, dass jemand einsam ist? Man weiß das ja oft nicht von anderen Menschen ...

Gutiérrez-Lobos: Das stimmt. Einsamkeit kann sich durch depressive Episoden zeigen. Betroffene haben häufig ein schlechtes Selbstwertgefühl, denken, sie seien nicht wichtig. Aus Untersuchungen wissen wir auch, dass einsame Menschen auf verschiedenste Arten versuchen, Verbindungen aufzubauen. Viele von jenen Menschen, die sogenanntes Doctor-Shopping betreiben, also von einem Arzt zur nächsten Ärztin gehen, sind einsam. Sie versuchen, mit anderen ins Gespräch zu kommen, etwa in Warteräumen.
Andere ziehen sich eher zurück. Wichtig ist, dass man sich nicht abwimmeln lässt, wenn man das Gefühl hat, jemand ist einsam. Man sollte immer wieder anrufen, gemeinsame Aktivitäten vorschlagen und vermitteln, dass man da ist. Es ist ganz wichtig, mit dem Stigma zu brechen und darüber zu reden.

STANDARD: Und was sollte man tun, wenn man sich selbst einsam fühlt?

Gutiérrez-Lobos:Es ist ähnlich wie bei Hunger oder Durst, man sollte das Bedürfnis stillen und nach Verbindung suchen.
Man kann sich auch damit auseinandersetzen, woher das Gefühl kommt. Einsamkeit hat oft mit Trennungen zu tun, wenn jemand in der Familie stirbt oder man den Arbeitsplatz wechselt und in eine neue Gruppe kommt. Auch körperliche Erkrankungen können die Ursache sein. Menschen, die schlecht hören, geben das beispielsweise oft nicht zu. Dabei ist es ein extremer Einsamkeitsfaktor, wenn man unter Leuten ist, aber nichts mehr mitkriegt.
Man kann sich aber Hilfe suchen, es gibt viele großartige Initiativen (siehe Kasten unten). Und vielleicht kann man ja den Mut aufbringen, das Gefühl bei den Kontakten, die man hat, offen anzusprechen. Oft ergibt sich viel Nähe aus einem "Ich fühle mich einsam, kannst du vorbeikommen?". (Magdalena Pötsch, 23.12.2023)