Einen Krieg zu beginnen ist einfach, ihn zu beenden weit weniger. Der deutsche Historiker Jörn Leonhard formuliert in seinem neuen Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" zehn Thesen, wie es doch gelingen könnte. Im Fall des Ukrainekriegs sieht Leonhard im Gespräch mit dem STANDARD aber derzeit keine Chance auf Verhandlungen.

STANDARD: Sie warnen in Ihrem Buch vor einem "faulen Frieden", der in der Geschichte Kriege meist nicht beendet, sondern eigentlich verlängert habe. Ein Fingerzeig in Richtung jener, die Kiew nun zu Verhandlungen mit Moskau drängen?

Leonhard: Schon zwischen Rom und Karthago war ein solcher "fauler Frieden" letztlich kein stabiler Frieden, weil die Zugeständnisse auch damals nur von einer Seite kamen. Die Logik dahinter ist, dass einseitige Konzessionen einem Aggressor in aller Regel zeigen, dass er auf einem guten Weg ist. Ein weiteres Beispiel waren die 1930er-Jahre, als Großbritannien und Frankreich auf Hitlers Aggressivität ab 1936 reagierten, indem sie faktisch die Tschechoslowakei preisgaben. Sie verfügten letztlich aber über keine Alternative für den Fall, dass der Aggressor seinerseits nicht zu glaubwürdigem Frieden bereit war.

Russlands Präsident Wladimir Putin hält an seinen Kriegszielen bisher eisern fest –und wiederholte sie während seiner Jahrespressekonferenz vergangene Woche.
AP/Gavriil Grigorov

STANDARD: Was müsste geschehen, damit sich im Ukrainekrieg ein Zeitfenster für Verhandlungen auftut?

Leonhard: Bei allen Kriegen kommt irgendwann die Frage nach dem Reifemoment auf, in dem alle Seiten von einer politischen Lösung mehr zu erwarten haben als von der Fortführung des Krieges auf dem Schlachtfeld. Dieser Moment wird auch im Ukrainekrieg irgendwann kommen. Momentan ist es aber noch nicht so weit. Die Ukraine wird auf westliche Hilfen setzen, weil dort auch die Sicherheit des Westens verteidigt wird, Russland vor allem auf die bröckelnde Resilienz des Westens.

STANDARD: Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen, sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach dem russischen Überfall. Umgekehrt heißt das: Die Ukraine muss siegen. Aber was wäre denn ein solcher Sieg, der den Krieg beendet?

Leonhard: Ein Sieg der Ukraine würde jedenfalls nicht bedeuten, dass es wie in früheren Jahrhunderten eine Truppenparade in der Hauptstadt des Gegners gäbe oder eine andere symbolische Demütigung Russlands. Als überfallenes Land ginge es für die Ukraine um die Wiederherstellung der territorialen Integrität und Souveränität und ihre internationale Absicherung.

STANDARD: Was verstehen Sie unter "Demütigung" im Kontext eines Krieges?

Leonhard: Die Behandlung der Besiegten nach dem Ersten Weltkrieg belastete die 1920er- und 1930er-Jahre enorm, denken Sie nur an die Wirkung der Verträge von Versailles und Saint-Germain in Deutschland und Österreich. Mit den Besiegten wurde damals nicht kommuniziert, sie waren von den eigentlichen Konferenzen faktisch ausgeschlossen. In Versailles wurden neben dem Tisch, auf dem die deutsche Delegation den Vertrag unterschreiben musste, schwer im Gesicht verletzte Soldaten aus dem Weltkrieg platziert. Das war eine ungeheure Emotionalisierung der unterstellten Kriegsschuld, die in Deutschland eine enorme Verbitterung auslöste.

STANDARD: Was braucht es, um das zu verhindern?

Leonhard: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA zu den Deutschen Brücken gebaut, etwa durch den Marshallplan. So erhielt Nachkriegseuropa eine politische und ökonomische Zukunftsperspektive. Für einen langfristigen Frieden, der ein Generationenprojekt ist, braucht es solche Perspektiven, weil der Krieg in den Köpfen sonst weitergeht.

STANDARD: Während der russische Präsident Wladimir Putin immer wieder von "Demilitarisierung" und "Entnazifizierung" der Ukraine spricht, hat sich Kiew die Befreiung der besetzten Gebiete zum Ziel gesetzt. Wie wichtig sind solche Ziele, wenn es um das Ende eines Krieges geht?

Jörn Leonhard steht an einer Treppe.
Jörn Leonhard, Historiker an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Ekko von Schwichow

Leonhard: Diese Ziele dienen vor allem der Mobilisierung der eigenen Gesellschaft für den Krieg und der Rechtfertigung der enormen Opfer. Am Ende wird es darauf ankommen, wie weit jede Seite von Maximalzielen abrücken kann. Putin hat vergangene Woche noch einmal betont, dass der Krieg erst dann vorbei sei, wenn Russland seine Ziele erreicht habe. Umgekehrt geriete (der ukrainische Präsident Wolodymyr, Anm.) Selenskyj unter massiven innenpolitischen Druck, wenn er die Befreiung des Landes infrage stellte. In einer solchen Situation ist der Moment für tragfähige Verhandlungen noch weit entfernt.

STANDARD: Mit welchem Krieg in der Geschichte lässt sich die aktuelle Situation in der Ukraine vergleichen?

Leonhard: Strukturelle Analogien gibt es zu russischen Imperialkriegen des 19. Jahrhunderts, etwa im Kaukasus, oder zur sowjetischen Invasion in Afghanistan ab 1979. Im imperialen Denken Russlands spielte die moralische Abwertung des "dekadenten Westens" bereits im 19. Jahrhundert eine große Rolle. Aus Sicht der Ukraine ähnelt die Lage eher den Kriegen zur Bildung neuer Nationalstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zugleich ist es aber auch ein Krieg über die künftige Weltordnung und die Bedingungen von Sicherheit und Stabilität, was an die Zeit vor dem Wiener Kongress oder nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erinnert. Diese Überlappung von Kennzeichen kennzeichnet den Ukrainekrieg als besondere Krise unserer Gegenwart. (Florian Niederndorfer, 21.12.2023)