Ballesterer Montazeri
Wenn Montazeri über die Qualitäten Peles spricht, kann es länger dauern.
Privat

In seinem Arbeitsalltag beim Spiegel verfolgt Danial Montazeri die Spiele des FC Bayern, er hat von den Turnieren in Russland und Katar berichtet und kommt ins Schwärmen, wenn er von Lionel Messi spricht. Kurz vor Peles 80. Geburtstag im Oktober 2020 stellte er bei einer Redaktionskonferenz fest, dass er über den Spieler, der als einer der besten aller Zeiten gilt, eigentlich nichts wusste. Und er fing an zu recherchieren. "Die Idee war herauszufinden, warum Pele eigentlich so gut war."

Ballesterer: Wie haben Sie sich einen Eindruck vom Spieler Pele verschafft?

Montazeri: Ich habe mir ganze Spiele angeschaut, auch um zu sehen, was Pele macht, wenn er nicht am Ball ist. Da bin ich auf Youtube fündig geworden, die Kameraeinstellungen sind teilweise sehr schlecht, die Bildqualität auch. Man muss sich also etwas daran gewöhnen, aber wenn man Pele einmal im Blick hat, achtet man nur noch auf ihn. Ich habe jeweils ein Spiel von der WM 1958 und 1970 und ein Spiel von Santos gegen den HSV gesehen.

Wie lautet danach Ihre Antwort auf die Frage, was Pele eigentlich ausgemacht hat?

Montazeri: Nach dem ersten Spiel hätte ich vielleicht noch gesagt: "Na ja, er hat halt in zwei WM-Finale Tore gemacht, deswegen gilt er als der Beste." Aber nach allen drei Spielen denke ich, dass er wirklich einzigartig war, quasi ein Außerirdischer am Platz. Wenn ich anfange aufzuzählen, was er konnte, würde ich jetzt zwei, drei Minuten am Stück reden.

Nur zu …

Montazeri: Er war damals Anfang 20 und der absolute Fixpunkt im Spiel. Wenn mehrere Gegner um ihn herum waren, war er sehr gut im Dribbling oder konnte mit Teamkollegen eng kombinieren. Also in engen Räumen war er super. Er war aber auch souverän, wenn er Platz gehabt hat, weil er sehr schnell war und tolle Laufwege hatte. Er war technisch absurd stark: Wie nehme ich einen Ball an? Wie lege ich ihn mir vor? Wo bringe ich ihn hin? Kann ich beide Füße benutzen? Er hat alles beherrscht. Noch dazu hat er sehr groß gewirkt.

Das war er ja nicht. 1,73 Meter sind auch für damalige Verhältnisse nicht viel.

Montazeri: Genau, aber er hat so eine Art, ich kann es gar nicht genau beschreiben, dass er viel größer und robuster wirkt. Er war sehr muskulös und hat kräftige Gegner einfach von sich weghalten können. Dadurch hat er in vielen Situationen angespielt werden können, auch mit hohen Bällen. Er war sehr kopfballstark. Beim 1:0 im Finale von 1970 überspringt er Tarcisio Burgnich ganz einfach. Aber er springt nicht nur hoch, sondern trifft auch den Ball genau im richtigen Moment.

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Was ist Ihnen noch aufgefallen?

Montazeri: Seine Kreativität war krass. Also die Art, wie er Gegenspieler aussteigen lassen hat, nicht wie Cristiano Ronaldo früher mit sechs Übersteigern. Sondern er macht es so wie Messi, er schaut auf die Füße des Gegners. Er beobachtet nicht den Ball, sondern die Bewegungen des Verteidigers und wie der sein Gewicht verlagert. So erkennt er, welche Seite offen ist, und geht dann vorbei. Es ist toll, ihm dabei zuzuschauen. Da habe ich sehr oft zurückgespult.

Jetzt haben Sie die beiden besten Spieler der letzten Jahre schon erwähnt: Wo steht Pele im Vergleich zu Messi und Ronaldo?

Montazeri: Die Frage ist ja, was es bedeutet, der beste Fußballer zu sein. Für mich ist klar, dass es nicht nur um Tore gehen kann. Also ein Spieler, der nicht nur Einfluss aufs Ergebnis nimmt, sondern auf das ganze Spiel. Und das hat Pele gerade bei Santos nicht nur erfüllt, sondern übertroffen. Ronaldo hat in seiner besten Zeit Tore aus allen möglichen Lagen geschossen, aber wenig Einfluss auf das gehabt, was passiert, wenn er nicht am Ball war. Messi ist sehr komplett, er ist der beste Spielmacher, den ich je gesehen habe, der beste Torschütze und der beste Dribbler. Aber er ist zum Beispiel kein Wand- und Zielspieler, wie es Pele war. Deswegen ist die Komplettheit von Pele auch heute noch einzigartig.

Lassen sich Spieler überhaupt über Jahrzehnte hinweg miteinander vergleichen?

Montazeri: Das ist eine Spielerei, man muss schon abstrahieren. Das Tempo der Spiele war früher lächerlich gering. In den 1960er Jahren war es nicht üblich zu pressen, schon gar nicht kollektiv. Man hat gewartet, bis der Gegner kommt. Dadurch schieben sich die Spieler teilweise 20 Sekunden lang ungestört den Ball zu. Viele Angreifer waren damals technisch schon richtig gut, die Verteidiger waren im Verhältnis schlechter.

Die Rahmenbedingungen sind inzwischen professioneller, und Pele würde heute sicher weniger gefoult werden.

Montazeri: Ja, er wäre besser geschützt. Und er hätte eine bessere Ausbildung genossen. Er hätte lernen müssen, sich schon vor der Ballannahme zu orientieren, weil weniger Zeit bleibt als damals. Also während der Ball unterwegs ist, schaust du mindestens einmal nach links und nach rechts über die Schulter, um zu wissen, was gleich passiert. Das hätte er schnell draufgehabt. Das Einzigartige an Pele ist, dass ich sonst nicht viel sehe, das man ihm beibringen müssen hätte. (Interview: Nicole Selmer, 20.12.2023)