Washington – Glynn Simmons hat einen Rekord aufgestellt, den sicher niemand brechen will. Mit 48 Jahren, einem Monat und 18 Tagen weist ihn das Register des "National Registry of Exonerations" der Universität Kalifornien als jenen Menschen aus, der in den USA am längsten unschuldig in Haft saß. Simmons, dem ursprünglich Mord während der Beteiligung an einem Überfall auf ein Alkoholgeschäft in den 1970er-Jahren vorgeworfen worden war, ist seit Mitte Juli auf Bewährung frei. Nun, am Mittwoch, wurde die Bewährung durch einen rechtskräftigen Freispruch ersetzt. Es gebe "klare und eindeutige Beweise", dass Simmons an dem Verbrechen, das ihm vorgeworfen worden war, nicht beteiligt war, urteilte Richterin Amy Palumbo bei einer Sitzung in Oklahoma City.

Glynn Simmons darf nach 48 Jahren unschuldig verbrachter Haft seinen Freispruch lesen.
AP/Doug Hoke

Simmons' Fall ist aufsehenerregend, aber an sich keine Ausnahme: Erst im Jahr 2021 hatte ein anderer Häftling, Anthony Mazza, mit über 47 Jahren des bisherigen Rekord für eine zu Unrecht verbüßte Haftzeit aufgestellt. Insgesamt sind 266 Fälle mit Haft von über 25 Jahren im Register der Uni erfasst. Die Plattform spricht von 3440 fälschlich Verurteilten, die seit 1989 aus der Haft entlassen worden seien. Das entspreche 31.070 vom Justizsystem gestohlenen Lebensjahren. Auch kursorische Suchen zeigen, dass es allein in den vergangenen Jahren viele weitere Fälle gab, in denen die unschuldig verbrachte Haft unter der Grenze von 25 Jahren geblieben war.

Fehler im System

Die NGO Innocence Project, die sich für die Freilassung unschuldig Inhaftierter in den USA einsetzt, nennt vor allem fünf Punkte, die bei den falschen Verurteilungen eine Rolle spielen. Einer davon sind falsche Augenzeugenaussagen, wie sie auch im Fall Simmons eine Rolle spielten: Damals hatte eine Frau, der beim Überfall in den Kopf geschossen worden war, ihn (und einen zweiten Mann) bei einer Gegenüberstellung ausgewählt. Ihr war geglaubt worden, obwohl sie sich selbst später in ihren Aussagen in Widersprüche verstrickte.

Aber auch vier andere Punkte tragen laut der NGO dazu bei, dass es in den USA vergleichsweise oft zu ungerechtfertigten Verurteilungen kommt: Falsche oder erzwungene Geständnisse bei der Polizei, untergeschobene Beweismittel und Ermittlungsfehler zählen dazu. Aber auch die in den USA häufigen "Plea Deals", also Vereinbarungen zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, mit denen ein Prozess vermieden wird. Dabei sieht die Staatsanwaltschaft besonders von hohen Strafdrohungen (oft der Todesstrafe) ab, wenn sich der oder die Beschuldigte im Gegenzug schuldig bekennt und einer zuvor vereinbarten Strafe zustimmt. Besonders Menschen aus finanziell schlechtergestellten Gesellschaftsschichten nehmen solche Vereinbarungen oft auch auf Druck ihrer Verteidigung an, die häufig aus überlasteten und schlechtbezahlten Pflichtverteidigern besteht.

Haft für Unschuldige hat Unterstützer

Darüber hinaus spielen auch gesellschaftliche Punkte eine Rolle. Zum einen ist das der Rassismus: So wie auch der nun freigelassene Simmons sind nach den Zahlen des Innocence Project ganze 57 Prozent aller seit 1989 aus der Haft entlassenen Menschen in den USA schwarz. Bei jenen, die zuvor auf Basis eines Plea Deals ein Schuldbekenntnis abgelegt hatten, sind sogar sogar 75 Prozent nichtweiß. Zum Vergleich: Laut der Volkszählung 2020 waren in den USA zwölf Prozent der Bevölkerung schwarz, 18 Prozent Latinos. Weiße machen 57 Prozent aller Menschen in den USA aus.

Drüber hinaus nennt die NGO Marshall Project unter Berufung auf eine Metastudie an der Duke University und der University of Virginia besorgniserregende Zahlen zur Rechtsauffassung in den USA: In einer Zusammenschau mehrerer Umfragen zeigt sich, dass rund 60 Prozent der Menschen in den USA einen zu Unrecht erfolgten Freispruch gleich schlimm finden wie die Verurteilung einer unschuldigen Person. Ganze 15 Prozent finden einen fälschlichen Freispruch sogar schlimmer als eine fälschliche Verurteilung. Nur ein Viertel steht zur grundsätzlichen Auffassung, dass besser schuldige Personen frei als unschuldige ein Haft sein sollten.

Am Fall Glynn Simmons lässt sich allerdings noch ein weiterer Punkt schildern, nämlich die Fehleranfälligkeit der Todesstrafe in den USA. Simmons nämlich war ursprünglich sogar zum Tode verurteilt worden. Die Entscheidung wurde dann auf Basis eines Urteils des US-Höchstgerichts 1977 in lebenslange Haft umgewandelt, mit dem die Todesstrafe für bestimmte Verbrechen ausgeschlossen wurde. Schon zuvor hatte des Gericht 1972 vorübergehend die Todesstrafe in den USA abgeschafft. Die Richterinnen und Richter hatten damals mehrheitlich befunden, dass die Urteile nicht gleichmäßig alle Bevölkerungsschichten treffen würde und damit dem Verfassungsgrundsatz widersprachen, der "grausame und ungewöhnliche" Strafen verbietet. Viele Bundesstaaten führten die Todesstrafe später aber unter geänderten Bedingungen wieder ein. (Zwei Richter, die Minderheit, waren der Meinung, dass die Strafe gar nicht mehr mit der gesellschaftlichen Entwicklung in den USA vereinbar sei.)

Einer von 25 zu Unrecht im Todestrakt

Laut dem Innocence Project sind seit der Wiedereinführung der Todesstrafe ab 1973 insgesamt 190 zu Unrecht Verurteilte aus der Todeszelle in die Freiheit entlassen worden. Genaue Zahlen darüber, wie hoch die Rate an falschen Verurteilungen ist, gibt es nicht. Eine Studie an der Stanford University versuchte anhand der bekannten Freisprüche auf Basis der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine solche Rate zu ermitteln. Sie kam auf rund vier Prozent aller Fälle, die Autorinnen und Autoren betonten aber, dass sie diese Zahl für eine konservative Schätzung hielten. Würde sie genau stimmen, wäre jeder 25. Häftling in USA-Todeszellen zu Unrecht dort. Derzeit sitzen in den USA nach Angaben des Death Penalty Information Center rund 2400 Menschen im Todestrakt. Vier Prozent davon wären 96 Personen.

Der nun freigesprochene Simmons war am Mittwoch übrigens vorerst nicht für ein Statement an die US-Medien verfügbar. Schon vor dem Prozess war bekannt geworden, dass der 71-Jährige, der laut "New York Times" seit Juli von Spenden gelebt hatte, an Krebs erkrankt ist. Simmons dürfte zumindest Anspruch auf eine Entschädigungszahlung haben. "Was getan wurde, kann nicht ungeschehen gemacht werden, aber es könnte Rechenschaftspflicht geben", sagte der Freigesprochene vor kurzem einer Nachrichtenagentur. (Manuel Escher, 21.12.2023)