Rekordzahl an Austritten
Im Jahr 2022 haben über 90.000 einstige Mitglieder der katholischen Kirche den Rücken gekehrt – ein Rekordwert. Dem gegenüber stehen nur rund 4700 Menschen, die heuer in sie eingetreten sind. Obwohl die österreichische Bevölkerung wächst, schrumpft die Mitgliedszahl der einst mächtigen katholischen Kirche. Auch die evangelische Kirche verliert Anhänger. 68 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind Christen, doch nur 16 Prozent glauben an Jesus Christus. "Das ist für die christlichen Kirchen natürlich ein ziemlicher Schock", sagt die Theologin Regina Polak im STANDARD-Gespräch. Denn dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gibt, sei "das Herzstück des christlichen Glaubens", sagt die Vorständin des Instituts für Praktische Theologie der Uni Wien.

Gründe für die Krise
Die erste Welle der Kirchenaustritte gab es bereits in den 1980er-Jahren. Oberflächliche Gründe seien, so Polak, die Frage nach dem Zölibat und der Rolle der Frau sowie die Ernennung konservativer Bischöfe. Dahinter steckt aber damals wie heute eine mangelnde Praxis. Ohne religiöse Bildung lassen sich die abstrakten Formeln des Katholizismus laut Polak nicht in das moderne, säkularisierte Leben der Menschen übersetzen. "Wenn wir sagen, Jesus ist der Sohn Gottes, denken Menschen heute an eine biologische Vaterschaft – das bedeutet das aber nicht." Die Haltung zur Abtreibung, Missbrauchsskandale oder die Rolle der Frau in der Kirche würden, so Polak, den Abwärtstrend beschleunigen.

Selbstverschuldeter Skandal
Für eine Institution, die sich als moralische Instanz präsentiert, sind die Missbrauchsskandale katastrophal. Der jahrzehntelange Missbrauch von Kindern in der katholischen Kirche sowie dessen Vertuschung sind laut Polak ein doppeltes Drama. Angesichts dessen noch Mitglied bleiben zu wollen setze einen sehr, sehr tiefen Glauben voraus.

Ist nur die katholische Kirche in der Krise?
Die Menschen wenden sich aber nicht nur vom Katholizismus ab, sie glauben generell immer weniger an Gott. 2018 ergab eine Studie noch, dass 77 der Österreicherinnen und Österreicher Prozent an Gott glauben. 2023 gaben nur 45 Prozent an, an ein "ein höheres Wesen oder eine geistige Macht" zu glauben. Die Säkularisierung wird laut Polak früher oder später auch andere Konfessionen betreffen. Allerdings sei die Religion für Migranten beispielsweise orthodoxen oder muslimischen Glaubens wichtiger, weil sich diese Menschen intensiver mit den Unterschieden zur Mehrheit auseinandersetzen, meint Polak.

Generationenfrage versus Altersfrage
Jede neue Generation wird weniger religiös. Jedoch wird Religion im Alter wichtiger. Die Senioren von heute haben aber eine ganz andere Ausgangssituation als die Generation Z (Gen Z), also Personen, die nach 1996 zur Welt gekommen sind. Dass Menschen, vor allem Frauen, mit zunehmendem Alter religiöser werden, wird die Säkularisierung in der Gesellschaft nicht ausgleichen.

"Wie kann Gott das zulassen?"
Den ersten Einbruch bei der Religiosität – nicht unbedingt der Religionszugehörigkeit, aber des Glaubens – erlebte laut Polak die Nachkriegsgeneration. "Nichts kann den Glauben mehr erschüttern als Leid, Gewalt, Katastrophen und Kriege", sagt die Theologin. Die Menschen würden sich fragen: "Was ist das für eine Welt, und wie kann Gott das zulassen?" Auf der anderen Seite erlebten Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Autonomie, weniger Armut und eine zunehmende Demokratisierung. Letztere hat sich in der Kirche nicht widergespiegelt.

Fehlende Gleichberechtigung
Ein weiterer Knackpunkt ist die fehlende Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche. Einerseits arbeiten Katholiken bereits an der Stärkung von Frauenämtern – bei einer Weltsynode, einer Versammlung hochrangiger Kirchenmitglieder, waren heuer erstmals Frauen zugelassen. Sogar das Frauenpriestertum stand zur Debatte. Andererseits erwarten Expertinnen wie Polak nicht, dass dieses bald kommt.

Mann hält im Koran
Laut der Theologin Regina Polak ist die Religion für Migranten beispielsweise orthodoxen oder muslimischen Glaubens wichtiger, weil sie sich intensiver mit den Unterschieden zur Mehrheit auseinandersetzen.
APA/AFP/LUIS ROBAYO

Der Trend zur alternativen Spiritualität
"Junge Frauen können Debatten über die Rolle der Frau in der Kirche nicht nachvollziehen", sagt Polak. Die Frauenfrage der Kirche passe nicht in ihr emanzipiertes Leben. Interessanter werde daher die alternative Spiritualität. Polak warnt aber davor, Praktiken wie Astrologie, Tarot, Meditation oder Kristallheilung in einen Topf zu werfen. Tarot beispielsweise könne auch einen Weg bieten, um über sich selbst mithilfe von Bildern zu reflektieren. "Das ist nicht magisch", meint Polak.

Mehr als eine Anhäufung von Zellen
Die Beliebtheit von Spiritualität erklärt Polak auch mit einem Wunsch nach Schutz und Hilfe. Bestimmte Praktiken gäben ein Gefühl von Kontrolle, wo eigentlich keine Kontrolle bestehe. Zudem suchten Menschen, auch wenn traditionelle Religionen verschwinden, einen Sinn. Sie wollen versuchen, mehr im Leben zu sehen als Sex, Arbeit oder andere materielle Dinge, so Polak. "Das sind für mich Zeichen, dass Menschen das Gefühl haben, mehr zu sein als eine Anhäufung von Zellen."

Ein kleiner Schritt für uns, ein riesiger Schritt für die Kirche
Die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ist in der katholischen Kirche seit Dezember erlaubt. Im selben Atemzug betonte der Vatikan aber erneut seine Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehen. Polak begründet das damit, dass die katholische Kirche eine enorme Organisation sei, die unterschiedlichste Meinungen unterbringe und dennoch versuche zusammenzuhalten. Immerhin ist die Kirche auch in Ländern präsent, in denen Homosexualität unter Todesstrafe steht. Daher wirke die Segnung hierzulande wie eine kleine Geste, in anderen Ländern sei es aber ein riesiger Schritt.

Verliert das Weihnachtsfest seine Bedeutung?
"Viele Menschen, die Weihnachten feiern, haben keinen kirchlichen Bezug zum Fest", meint Polak. Das Fest werde immer mehr umgedeutet. Viele Muslime feiern kein christliches Weihnachten, sie backen aber Kekse und tauschen Geschenke aus. Die Weihnachtsfeiertage seien so tief in unserer Kultur verankert, dass sie nicht verschwinden, so Polak. "Irgendwie ist bei jedem hängen geblieben, dass Weihnachten ein Fest der Liebe ist. Es ist eine Liebe, die sich vor allem an Arme, Fremde oder Kranke richtet." (Isadora Wallnöfer, 22.12.2023)