Jacques Delors bei einer Pressekonferenz im Jahr 2005.
Jacques Delors bei einer Pressekonferenz im Jahr 2005.
REUTERS/Charles Platiau

Jacques Delors sei "ein Visionär, der Europa stärker machte", gewesen. So würdigte Präsidentin Ursula von der Leyen am Mittwochabend ihren Vorgänger, der die EU-Kommission von 1985 bis 1995 geführt hat. Dieser, 1925 in Paris geborene "Kämpfer für menschliche Gerechtigkeit", werde wegen seines Engagements, seiner Ideale und seiner Rechtschaffenheit für immer "eine Inspiration" sein, erklärte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron auf X, vormals Twitter.

Und Roberta Metsola, die Präsidentin des Europäischen Parlaments, sprach gar davon, dass die Europäische Union "einen Giganten" verloren habe. Kein Superlativ war in den ersten Reaktionen zu groß, als Delors‘ Tochter Martine Aubry, als Bürgermeisterin von Lille und selbst Politikerin, zuvor bestätigt hatte, dass ihr Vater in Paris verstorben sei. Er wurde 98 Jahre alt.

Video: Architekt der modernen EU: Ex-Kommissionspräsident Delors ist tot.
AFP

Nur wenige Stunden zuvor war der frühere deutsche Innen- und Finanzminister, CDU-Chef und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gestorben. Auch er war als Architekt des deutschen Einigungsvertrages und später eiserner Hüter des Euro, der Währungsunion, eine sehr wichtige, prägende Gestalt europäischer Entwicklung.

Delors mit neuen Ideen

Aber Jacques Delors, dieser im Stil stille, zurückhaltende, nie zu großen Worten neigende französische Sozialdemokrat, war dann doch ein Politiker der allerhöchsten Kategorie. Er hat in den 1980er und 1990er-Jahren nachhaltig Geschichte geschrieben, in einer Liga mit dem deutschen Kanzler Helmut Kohl und Frankreichs Präsident Francois Mitterrand. Ganz in der Tradition von Aussöhnung ehemaliger Erbfeinde, von Frieden und Integration, von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing. Über Jacques Delors lässt sich mit Recht sagen: Ohne ihn, ohne seine berühmten "Delors-Pläne" würde Europa und die Europäische Union heute nicht so aussehen, wie sie ist: eine Union mit offenen Binnengrenzen, einer gemeinsamen Währung, dem Euro, einem Binnenmarkt, in dem Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitnehmer sich frei in allen Mitgliedsländern bewegen können. Plus eine gemeinsame Außen- und Innen- bzw. Sicherheitspolitik.

Als Kommissionspräsident hatte er ab 1985 für neuen Schwung gesorgt, als auf dem Kontinent das böse Wort der "Eurosklerose" die Runde machte. Es brachte zum Ausdruck, dass es der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die damals aus nur zehn Staaten (zur Orientierung: Spanien und Portugal traten erst 1986 bei) bestand, nicht sehr gut ging. Sie lahmte. Mit EU-Budget wurden "Butterberge", "Milchseen" und viel zu viel Fleisch subventioniert und produziert, fast unverkäuflich, wie Kritiker damals spotteten.

Außer dem Abbau von Zöllen und einer alles dominierenden gemeinsamen Agrarpolitik war man noch nicht sehr weit gekommen. Delors brachte mit den Regierungschefs auf Basis von lange in Schubladen verräumten Konzepten mit neuen Ideen und Plänen wieder Schwung in die Bude. Zunächst wurde das Konzept des Binnenmarktes konzipiert: EG-Länder sollten sich zu ihren Partnern weitgehend öffnen, einen "gemeinsamen Markt" schaffen. 1987 wurde mit dem Genscher-Memorandum (benannt nach dem damaligen deutschen Außenminister) schließlich die Währungsunion konkret als Projekt angegangen. Delors, der Anfang der 1980erJahre EU-Abgeordneter gewesen war und Vorarbeiten dazu gemacht hatte, übernahm den Vorsitz der Kommission, die den späteren "Euro", das gemeinsame Geld erarbeitete.

Konzepte der stufenweisen Umsetzung

Diese gestarteten Reformen waren für sich allein schon eine Herausforderung, wie es sie seit Gründung der Gemeinschaft 1957 nicht gegeben hatte. Zum Meisterwerk wurden diese Arbeiten durch Delors und sein Team in Brüssel, weil 1989 etwas passierte, womit niemand gerechnet hatte.

Ausgehend von Polen knickten die von Moskau dirigierten kommunistischen Regime in Ost- und Ostmitteleuropa ein. Der Eiserne Vorhang fiel, die DDR brach zusammen, 1991 dann die Sowjetunion. Daraus ergab sich nicht nur die Notwendigkeit, die deutsche Vereinigung zu organisieren, die europäische Gemeinschaft musste auf eine stabile Basis gestellt werden.

Er habe sich "auf Delors hundertprozentig verlassen können", betonte Helmut Kohl oft, wenn er über die kritischen Phasen dieser Prozesse berichtete. Quasi über Nacht stellte der Franzose alle EU-Programme so um, dass die frühere DDR als Teil Deutschlands voll in die EG-Politik integriert war – nicht leicht für Frankreich. Aber: "Eine vereinigtes Deutschland in einem Vereinten Europa", diese Kohl-Formel hatte auch dessen wichtigster Partner in Paris, Präsident Mitterrand, letztlich akzeptiert.

Und Delors hat stets "geliefert". Mit dem neuen, für die damalige Zeit revolutionären EU-Vertrag von Maastricht wurden 1991 die Weichen gestellt für eine tiefe Integration der Mitgliedsländer: offene Grenzen, gemeinsames Geld, der spätere Euro, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Integration von Polizei und Justiz – das waren nun die Ziele.

Leicht war die Umsetzung nicht. Die Spannung zwischen den Regierungen und den Mitgliedstaaten waren enorm. Aber Delors Konzepte der stufenweisen Umsetzung großer Ziele haben letztlich gehalten. Sie wirken bis heute nach, bei einer auf 27 Mitglieder erweiterten Union.

Dem Franzosen Delors, der im Grunde immer mehr Pragmatiker als Visionär war, schwebte dabei nicht ein großer europäischer Zentralstaat vor, wie Kritiker oft behaupten. Vielmehr hatte er sich das große Europa so vorgestellt, wie Deutschland funktioniert: als förderale Einheit. Die Kommission in Brüssel solle die großen Linien vorgeben, die regional – von den Staaten - umgesetzt werden.

Delors als Kompromisslösung

Einmal in kleiner Runde gefragt, wie er das Projekt einer europäischen Verfassung beurteile, sagte er mit einem für ihn typischen verschmitzten Lächeln: "Gute Verträge sind besser als eine schlechte Verfassung." Wie kam er zu dieser Sichtweise? Es hatte vermutlich viel mit den konkreten politischen Erfahrungen zu tun, die Delors in der französischen Innenpolitik machte, mit dem Scheitern von großen ideologischen Zielen, die der sozialistische Staatspräsident mit ihm in nur kurzer Zeit nach der Präsidentenwahl 1981 im Wirtschaftsbereich erfuhr. Verstaatlichungsprogramme im Bankensektor etwa, die auf dem Papier gut wirkten, fuhren an die Wand. Mitterrand war bis 1995 gleich mehrfach in der peinlichen Lage, den Franc gegenüber der starken D-Mark abwerten zu müssen. Aber die Deutschen halfen Paris stets großzügig aus, damit größere Schäden im wirtschaftlichen Austausch verhindert werden konnten.

Diese Art von Ausgleich von Gegensätzen und Kompromissfähigkeit zeichneten später auch Delors als Chef der EU-Kommission und "Deutschlandversteher" aus. Der Franzose und nun soziale Marktwirtschaftler brachte das auch privat problemlos auf die Reihe: Er war Sozialist und gläubiger Katholik zugleich, nicht gerade üblich unter Frankreichs Spitzensozialisten.

Von 1981 bis 1984 machte er sich nach Korrekturen durch umsichtige Wirtschafts- und Budgetpolitik einen Namen, auch bei den Partnerregierungen in Europa. Als 1984 die Wahl eines neuen Kommissionspräsidenten anstand, und die britische Premierministerin mehrere Kandidaten abgelehnt hatte, schlug seine große Stunde: Er ging bei den EU-Regierungschefs als Kompromisslösung durch. In den zehn Jahren seiner Amtszeit wurde er dann zu dem "Delors", wie er in Kurzform durchaus respektvoll genannt wurde. Sein Name prägt heute auf Straßen- und Plätzen, wichtigen Gebäuden und auch "seinem" Institut Jacques Delors“ in Paris, einem bedeutenden Thinktank. (Thomas Mayer aus Lugny, 27.12.2023)