Vor mehr als 20.000 Jahren haben Menschen in südfranzösischen und spanischen Höhlen zahlreiche Malereien und Ritzzeichnungen hinterlassen. Die Tierdarstellungen und Jagdszenen verblüffen bis heute durch ihre Lebendigkeit und ihren Realismus. Daneben waren als steinzeitliche Motive an den Höhlenwänden auch Handabdrücke sehr beliebt. Sie sind nicht nur in Europa zu finden, sondern kommen ebenso in Amerika, Afrika, Asien und Australien in großer Zahl vor. Interessanterweise dürften viele davon von Frauen stammen, wie US-Anthropologen 2013 herausgefunden haben.

Und noch etwas ist bei diesen Händen an einigen Fundorten auffällig: Bei einem ungewöhnlich hohen Anteil dieser Handbilder scheinen Fingerglieder oder ganze Finger zu fehlen. War die Gefahr für die Menschen der Steinzeit besonders groß, sich an den Händen zu verletzen? Das mochte vielleicht tatsächlich so gewesen sein, doch die offenkundige Häufigkeit von Fingerverstümmelungen könnte auch einen anderen, grausigeren Grund gehabt haben: Kanadische Forschende stellten die durchaus kontroverse These vor, dass manchen Steinzeitmenschen absichtlich und im Zuge einer rituellen Zeremonie einzelne Finger zur Gänze oder teilweise amputiert worden waren.

Cosquer-Höhle, Hände, Zeichnungen, Steinzeit
Schablonenbilder von Händen in der Höhle von Cosquer südöstlich von Marseille. Mehr als die Hälfte der dort entdeckten Hände weisen fehlende Finger oder Fingerglieder auf.
Foto: APA/AFP/NICOLAS TUCAT

Hoher Prozentsatz verstümmelter Hände

"Fingeramputationen waren in der jüngeren Vergangenheit in vielen Regionen weitverbreitet", erklärte Mark Collard von der Simon Fraser University in British Columbia, Kanada. "Das scheint recht gut zu der Hypothese zu passen, dass manche Menschen der jüngeren Altsteinzeit die Verstümmelung von Fingern als eine Art religiöses Opfer praktizierten", sagte der Archäologe.

Die beiden französischen Höhlen von Gargas und Cosquer sind für ihre Handabdrücke besonders bekannt. In Gargas zählte man 231 Handbilder, bei 114 von ihnen fehlt mindestens ein Fingersegment. In Cosquer sind 49 Handbilder zu finden, 28 davon zeigen fehlende Fingersegmente. "In beiden Fällen ist der Prozentsatz verstümmelter Hände außerordentlich hoch", sagt Collard. Vergleichbare Beispiele sind auch von anderen Fundorten bekannt.

Viele Theorien

Warum Hände mit fehlenden oder zu kurzen Fingern in so großer Zahl dargestellt wurden, war bisher ein Rätsel, wenn auch einige Theorien dazu kursierten. Eine Vermutung ist beispielsweise, dass die Hände der Menschen eigentlich intakt waren und ihre Handbilder ein einfaches Zählsystem darstellen, so wie wir etwa "drei" zeigen, indem wir zwei Finger krümmen. Andere wiederum vermuten, dass die Menschen ihre Finger durch Erfrierungen verloren haben könnten.

Collard und seine Kolleginnen und Kollegen dagegen glauben eher, dass den Menschen die Finger in Wahrheit absichtlich entfernt wurden. Um herauszufinden, ob dies plausibel ist, analysierten sie Studien über rezente menschliche Gesellschaften, um herauszufinden, wie viele davon Fingeramputationen aus unterschiedlichen Gründen praktizierten. Sie fanden 121 Gesellschaften, bei denen dies tatsächlich vorkam. "Ich war ziemlich schockiert", sagte Collard. "Man mag sich gar nicht vorstellen, dass jemand sich für so eine Praxis entschied – und doch fanden wir eine Gruppe nach der anderen, die es tat."

Cosquer-Höhle, Hände, Zeichnungen, Steinzeit
Nicht alle Hand-Negative in der Cosquer-Höhle zeigen Verstümmelungen. Diese Hand hier wirkt ziemlich vollständig. Manche Forschenden vermuten hinter den fehlenden Fingergliedern Erfrierungen.
Foto: AP/Daniel Cole

Moderne Praxis

Insgesamt machte das Team um Collard zehn Gründe aus, warum rezente Volksgruppen ihren Mitgliedern Finger amputierten. Dazu zählten unter anderem die Verstümmelung als Zeichen der Gruppenidentität und als Strafe. In einigen Gesellschaften entfernen die Menschen freiwillig einen Finger, wenn sie trauern. In anderen stellt das Amputieren eines Fingers ein religiöses Opfer dar. Manche Frauen entfernen und essen sogar einen Finger, um eine Schwangerschaft herbeizuführen.

Das Team vermutet, dass im steinzeitlichen Frankreich der Grund für das Entfernen der Finger ein Opfer im Rahmen einer Zeremonie war. "Die Vorstellung, dass die Handbilder ein Opfer darstellen, stimmt weitgehend mit der Art und Weise überein, wie die Höhlenkunst im Laufe der Jahre von vielen Forschern interpretiert wurde", sagte er. Sie wurde mit Ritualen in Verbindung gebracht, die möglicherweise auch die Einnahme von bewusstseinsverändernden Drogen einschlossen. "Wir haben freilich für unsere Annahme keinen Beweis. Wir könnten uns auch irren", sagte Collard. Doch plausibel wäre diese Hypothese im Licht moderne Praktiken einiger Gesellschaften allemal, so der Wissenschafter.

Skepsis bei Fachleuten

Fachkollegen sehen diese Schlussfolgerung eher skeptisch. Wie Ian Gilligan von der University of Sydney, Australien, erklärte, würden die Handabbildungen in den Höhlen wohl tatsächlich verstümmelte Hände zeigen. Die Gründe dafür seien allerdings seiner Meinung nach deutlich andere. Er hält Erfrierungen für viel wahrscheinlicher.

"Keiner der angeführten ethnografischen Fälle entspricht dem charakteristischen Muster, das in den eiszeitlichen Handschablonen zu sehen ist", so der Archäologe. "Andererseits entspricht das beobachtete Muster genau den Auswirkungen von Erfrierungen, die bei den kleinen Fingern beginnen und bei denen die Daumen am seltensten betroffen sind." (Thomas Bergmayr, 2.1.2024)