Simon Ammann in Oberstdorf
Der alte Simon Ammann springt nicht ganz wie der junge Simi, aber Platz 22 in der Quali von Oberstdorf war aller Ehren wert.
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29. Dezember 1997: Madame de Pompadour wäre 276 Jahre alt geworden, Präsident Boris Jelzin wünscht den Russen ein besseres Jahr 1998, 100.000 Teilnehmer versammeln sich zum europäischen Jugendtreffen der christliche Gemeinschaft Taizé in Wien, in Kenia stellt sich Langzeitpräsident Daniel arap Moi zum sechsten und letzten Mal der Wiederwahl, in Hongkong werden 1,3 Millionen Stück Geflügel, der gesamte Bestand, geschlachtet, um die Ausbreitung der Vogelgrippe zu verhindern, und in Oberstdorf gewinnt der Japaner Kazuyoshi Funaki das Auftaktspringen der Vierschanzentournee.

Deutsche wie Österreicher verpassen das Podest, aber die Schweiz feiert. Simon Ammann, zarte 16 Jahre alt und aus Grabs im Kanton St. Gallen, landet in seinem ersten Tourneespringen auf Rang 15. Am Freitag hebt Ammann auf der Schattenbergschanze in seine 25. Vierschanzentournee ab – seine letzte, wie der inzwischen 42-jährige, viermalige Olympiasieger versichert. Aber das heißt rein gar nichts.

Zehn Jahre alte Rücktrittsankündigung

Denn heuer jährte sich auch schon zum zehnten Mal Ammanns erste Rücktrittsankündigung. "Was, wenn er einfach endlos weitermacht?", fragte der Schweizer Rundfunk schon 2018. Und tatsächlich ist dem Hobbypiloten zuzutrauen, dass er auch noch Noriaki Kasai stellt, die fliegende Antiquität aus Japan, die schon 26. Mal die Tournee in Angriff nahm, jetzt schon seit einiger Zeit weg vom Fenster, aber immer noch nicht zurückgetreten ist. Und außerdem: Die WM 2025 in Norwegen und Olympia 2026 in Italien könnten Ammann ja auch noch reizen.

Simon Ammann: "Böse gesagt, bin ich der einzige Breitensportler im Weltcup."
IMAGO/Manuel Geisser

"Böse gesagt, bin ich der einzige Breitensportler im Weltcup", behauptet Ammann. Und dennoch segelt er auch in seiner 26. Saison regelmäßig in die Weltcuppunkte. Und selbst wenn er abschmiert, der "Simi" ist neben dem sechs Wochen jüngeren und auch recht spät zurückgetretenen Tennisgott Roger Federer der beliebteste Schweizer Sportler und damit längst sakrosankt. Der "Rocker im Herzen", den sie einst wegen der Ähnlichkeit mit Joanne K. Rowlings Zauberlehrling Harry Potter nannten, genießt seine Abschiedstour, die eigentlich 2014 begann.

Nur voraussichtlich

Nach der Olympia-Pleite von Sotschi, nach den Plätzen 17 und 23 als Titelverteidiger von Vancouver 2010, hatte er verkündet, "zu 99 Prozent nicht mehr in Pyeongchang dabei" zu sein. Und er wiederholte sich, als er vor den Spielen 2018 in Südkorea seiner Frau Yana versprach, dass nun wirklich Schluss sei. Seitdem erscheinen jährlich Nachrufe auf das vollendete sportliche Wirken Ammanns – ohne dass dann Vollzug gemeldet werden könnte.

Ammann macht sich seitdem einen Spaß daraus, dementiert nur halbherzig, "probably", so seine Lieblingsvokabel, sei es seine letzte Vierschanzentournee, letzte WM, seien es seine letzten Winterspiele. Und dann war er doch wieder dabei, bei der WM 2019, 2021, 2023, bei Olympia 2022.

"Ich bin an einem Punkt, wo ich mich schön ums Tagesgeschäft kümmern kann", sagte er dem Sport-Informationsdienst 2021 mitten in seiner traditionell wieder einmal letzten Saison: "Über das Makro, das ganz Große, mache ich mir gerade gar keine Gedanken."

Simi hier, Simi da

Ohnehin hat der Vater von Théodore (zehn), Charlotte (sechs) und Aaron (drei) genug Ausgleich zum Sport. Gemeinsam mit dem ehemaligen deutschen Weltklasseskispringer Martin Schmitt betreibt er eine Sportvermarktungsagentur, er investiert in die touristische Infrastruktur seiner Heimattalschaft Toggenburg und übernahm mit seinem Bruder Josias eine Dachdeckerei und Spenglerei.

Am Donnerstagabend in Oberstdorf freute er sich nach seinem Qualifikationssatz auf 119 Meter und Rang 22 wie ein Tournee-Novize, schließlich hatte er im Vorjahr mangels Form beim Traditionsevent gefehlt. Zum Tourneesieg, zum einzigen Titel, der dem Großschanzenweltmeister (2007), Skiflugweltmeister (2010) und Gesamtweltcupsieger (2010) fehlt, wird es nicht mehr reichen. Das weiß der Zweitplatzierte von 2009 und 2011. Vielleicht geht sich noch ein Podest aus – "probably not" würde Ammann sagen. (Sigi Lützow, 29.12.2023)