Der Termin war (fast) perfekt gewählt. Der Flieger, der meine damalige Frau und mich nach Johannesburg brachte, verließ Frankfurt am 1. März 1990 – zweieinhalb Wochen nach der Freilassung Nelson Mandelas. Diese live in Kapstadt mitzuerleben, das wäre gewiss ganz perfekt gewesen – doch mit der unbequemen Aussicht, in der Masse zerquetscht oder vom Stress niedergestreckt zu werden.

Johannes Dieterich mit Kindern in einem somalischen Flüchtlingslager
Johannes Dieterich mit Kindern in einem somalischen Flüchtlingslager bei Baidoa, 2022.
privat

Mein wichtigstes Gepäckstück war ein Aluminiumkoffer, in den mein "Laptop" in Schaumstoff eingebettet lag: einer der ersten schleppbaren Rechner auf dem deutschen Markt. Auch einen "Akustikkoppler" hatte ich dabei: Das Gegenstück eines Telefonhörers, der zur Übertragung von Daten in das merkwürdig anmutende Gerät gedrückt werden musste – ein plumper Vorgänger des Modems und Vorvorgänger des Routers. Bei der Übertragung klapperte der Text Buchstabe für Buchstabe im Telex-Tempo über den Bildschirm: Während der Sendung einer längeren Reportage konnte ich Mittag essen. Meinen Zeitungen, die über dieses Wunderwerk der Technik nicht verfügten, musste ich ein Fax senden oder meine Texte übers Telefon diktieren. Falls überhaupt jemand ans Telefon ging.

Knapp 34 Jahre später hört sich das wie ein Bericht aus einer Steinzeithöhle an. Heute schicke ich meine Texte vom Auto oder einem äthiopischen Hüttendorf aus in Sekundenschnelle an alle meine Redaktionen gleichzeitig und rufe danach noch schnell die neuesten Nachrichten ab. Zu Hause wird erwartet, dass ich in meinem Berichterstattungsgebiet von 50 Staaten ständig auf dem Laufenden bin. Auch wenn ich gerade im Stau in der nigerianischen Hafenstadt Lagos stecke: Der Bombenanschlag in Uganda wartet nicht, bis ich zu Hause bin.

Segen und Leid

Die vierte industrielle Revolution hat dem Kontinent und seinem Korrespondenten unglaublichen Segen beschert – und schreckliches Leid angerichtet. Der Berichterstatter muss seitdem allgegenwärtig sein. Den gnädigen Anrufbeantworter mit der Ansage "Bin zur Zeit nicht im Büro, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht" gibt es nicht mehr.

Zumindest bisher hat die technologische Revolution noch keine politische nach sich gezogen, das kommt hoffentlich noch. Immerhin brach damals, vor 34 Jahren, die weltpolitische Erstarrung des Kalten Krieges auf, sonst wäre Nelson Mandela nie freigelassen worden. Russlands Perestroika nahm den weißen Südafrikanern die Angst vor der roten Gefahr. Und ganz Afrika erwachte aus einer Ära, die von Militärcoups, Stellvertreterkriegen zwischen "kommunistischen" und "kapitalistischen" Einflussgebieten sowie der Herrschaft obskurer Tyrannen wie "Kaiser" Bokassa oder Mobutu Sese Seko verfinstert worden war. Ein "Wind des Wandels" fegte über den Erdteil – und riss auch uns Journalisten mit sich.

Johannes Dieterich mit Erzbischof Desmond Tutu
Johannes Dieterich mitErzbischof Desmond Tutu in Kapstadt vor den Wahlen 2009. Tutu "beichtete", dass er nicht mehr für den ANC stimmen werde.
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Die folgenden Jahre waren phänomenal. Nelson Mandela stellte sich als noch beeindruckender als erwartet heraus, wir Journalisten standen als Wegbereiter des "Neuen Südafrika" hoch im Kurs, mit den ersten demokratischen Wahlen am Kap der Guten Hoffnung ging ein Traum der aufgeklärten Menschheit in Erfüllung.

Dass dieser Traum in den folgenden Jahrzehnten dermaßen schroff platzen würde, hätte ich niemals für möglich gehalten: die Enttäuschung meines Lebens. Wer dafür verantwortlich war? Nelson Mandelas Befreiungsbewegung, die sich als Bereicherungsbewegung herausstellte? Der Mensch, der letzten Endes doch zur Gier und zum Machtmissbrauch neigt? Oder meine blauäugige Naivität, die früher oder später Schiffbruch erleiden musste?

Gott sei Dank gab es Pragmatiker: Juristen und Politiker, die Südafrika eine der besten Verfassungen der Welt verpassten. Wenn Südafrika vor dem freien Fall noch gerettet werden kann, dann von den im Grundgesetz verankerten Kontrollorganen. Die kommenden Jahre werden zeigen, wer die Oberhand gewinnt: Korruption oder Kontrolle.

Sorgenreicher Blick nach vorn

Ein Blick auf den Kontinent verheißt nichts Gutes. Afrikanische Lichtblicke sind kaum auszumachen: Den letzten, die Revolution im Sudan vor fünf Jahren, haben zwei machtbesessene und mörderische Generäle vernichtet. Womöglich ist Depression eine Berufskrankheit, mit der ein Afrika-Korrespondent leben muss, so wie ein Tischler ohne Mittelfinger. Im Verlauf meiner jahrzehntelangen Berichterstattung von dem Kontinent habe ich mehr Unheil gesehen, als einer Seele guttut. Den zehnjährigen Buben in Monrovia, der vor meinen Augen an Ebola starb; der Selbstmordattentäter in Mogadischu, von dem nach der Explosion vor meinem Hotel nur noch der Kopf zu sehen war; und das 17-jährige Mädchen aus Tigray, dem ein Scharfschütze die Hälfte des Gesichts einschließlich beider Augen weggeschossen hatte.

Mogadischu 2011: Ein unterernährtes somalisches Baby wird gewogen
Mogadischu 2011: Ein unterernährtes somalisches Baby wird gewogen. 260.000 Menschen starben im Zuge dieser Hungerkatstrophe.
Johannes Dieterich

In zahlreichen Leserbriefen wurde ich aufgefordert: "Schreiben Sie doch mal positiver über Afrika!" Oft war solchen Mails gleich die Adresse einer kleinen, privaten Hilfsorganisation beigefügt. Als ob das Beste, das über Afrika berichtet werden kann, die Hilfsbereitschaft der Europäer sei. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Geschichte nicht geschrieben zu haben, weil sie zu positiv war. Im Gegenteil: Einen nicht unerheblichen Teil meiner Zeit habe ich der Suche solcher Perlen gewidmet.

Ein Weg erwies sich stets als Erfolg: ein Flug nach Nairobi in die "Silicon Savannah", das kenianische Silicon Valley, wo der "Buzz" junger Erfinder, quirliger Start-up-Unternehmer und sozial engagierter App-Entwickler selbst den griesgrämigsten Berichterstatter aus der Schwermut riss. Nicht zufällig sind in der Silicon Savannah wie in anderen afrikanischen IT-Hubs inzwischen europäische Headhunter unterwegs: Auf der Suche nach Migranten, die man im Gegensatz zu allen andern haben will – selbst wenn diese zu Hause viel dringender gebraucht werden. Heuchelei ist eine der am weitesten verbreitete Untugend der westlichen Welt: Im Ernstfall schlägt das eigene Interesse gnadenlos zu, wie bei der Klimadebatte, dem Horten von Covid-Impfstoffen oder der Unterstützung von Autokraten, die auf wichtigen Bodenschätzen sitzen.

Demokratie in der Defensive

Eine ganze Welle an Militärcoups machte in diesem Jahr deutlich, dass die Demokratie auf dem Kontinent in die Defensive geraten ist. Einmal mehr wird deklariert, die Herrschaft des Volkes sei ein "westliches", für Afrika ungeeignetes Konzept – als ob die Bewohner des Kontinents ihrer Natur nach lieber gegängelt und gepiesackt würden. Dabei bringt jede ernstzunehmende Umfrage zum Vorschein, dass eine überwältigende Mehrheit der Afrikaner die Demokratie in ihrer Heimat vorzieht. Allerdings wird mit Wahlen nirgendwo mehr Schindluder gerieben als in der Wiege der Menschheit. Und sind sie mal gewählt, pflegen sich Afrikas Big Men einen Dreck um das Wohl und Votum ihre Untertanen zu kümmern.

Das zynische Spiel der "fat cats" geht solange gut, wie die große Mehrheit der Afrikaner auf dem Land lebt und dort in erster Linie mit dem Überleben beschäftigt ist. Sie haben weder Zeit noch Mittel, den Vorgängen in den fernen Hauptstädten zu folgen, geschweige denn, sie zu beeinflussen. Mit der Verstädterung und der allmählichen Entstehung eines urbanen Mittelstands ändert sich das allerdings: Menschen mit Schul- oder gar Hochschulabschluss sind an politischen Vorgängen hochinteressiert und nehmen oft in Organisationen der Zivilgesellschaft am öffentlichen Leben teil.

Die herkömmlichen "Eliten" stehen diesen Gruppen besonders feindselig gegenüber: Sie wissen, dass ihnen aus dieser Richtung die größte Gefahr droht – wie zuletzt im Sudan deutlich wurde. Entwicklungshilfe kann kaum effektiver als mit der Stärkung derartiger Organisationen geleistet werden.

Auf den Schrottplatz der Geschichte

In einem Vierteljahrhundert wird jeder vierte Mensch ein Afrikaner sein. Der Kontinent ist so jung wie kein anderer der Welt: Seine Bewohner sind durchschnittlich 19 Jahre alt, im Unterschied zu fast 45 Jahren in Deutschland oder knapp über 43 in Österreich. Jung, zahlreich, gut ausgebildet und virtuell mit der gesamten Welt vernetzt sind sie eine Macht, mit der künftig zu rechnen ist.

Der Einfluss des Kontinents auf die Geschicke der Menschheit wird in den kommenden Jahrzehnten rapide zunehmen: Dafür werden auch Afrikas wachsender Markt und sein unverhältnismäßig großer Anteil an den Quellen erneuerbarer Energien sorgen. Noch wird der Kontinent von Dinosauriern wie Kameruns Paul Biya, Äquatorialguineas Theodoro Obiang oder Ugandas Yoweri Museveni zurückgehalten. Doch irgendwann wird eine ermächtigte Zivilgesellschaft derartige Endlospräsidenten zusammen mit den Junta-Chefs auf den Schrottplatz der Geschichte schicken.

Johannes Dieterich mit Familie, 2016 in Südafrika.
Johannes Dieterich mit Familie, 2016 in Südafrika.
privat

Afrika war gut zu mir. Es ließ mich einer Flugzeugentführung und einem Flugzeugabsturz entkommen und streckte mich kein einziges Mal mit einer seiner gefürchteten Krankheiten nieder. Ich lernte auf dem Kontinent Menschen kennen, die weiser, witziger, freundlicher und vor allem bescheidener als der Durchschnittseuropäer sind. Und ich arbeitete mit Kollegen zusammen, ohne die ich nichts verstanden hätte und nicht einmal abends heil ins Hotel zurückgekehrt wäre.

Obwohl ich streng genommen auf dem Kontinent bleibe: Von meinem Ruhesitz in Kapstadt ist Afrika ungefähr so weit entfernt wie die Linzer Stahlwerke oder die Idylle des Altausseer Sees. Auch wenn ich zuweilen zu viel von dir gesehen habe, Afrika: Ich werde dich vermissen. (Johannes Dieterich, 30.12.2023)