Es schien, als ob sie die ganze Absurdität der offiziellen Rechtfertigung für Russlands Feldzug gegen die Ukraine in ein Bild packen wollten: Anlässlich der diesjährigen Chanukka-Feiern beschlossen die Mitglieder von Odessas jüdischer Gemeinde eine großdimensionierte Menora an einem Ort aufzustellen, der bis vor kurzem inmitten einer streng abgeschirmten Sperrzone lag.

Oberrabbiner Avraham Wolff entzündet Kerzen an der Menora am Primorski Boulevard in Odessa.
Oberrabbiner Avraham Wolff entzündet Kerzen an der Menora auf demPrimorski-Boulevard in Odessa.
IMAGO/Nina Liashonok

In Friedenszeiten diente der Primorski-Boulevard den Bewohnern und Besuchern der historischen Altstadt als Flaniermeile, Entspannungs- und Zerstreuungsort. Öffentlich zugänglich ist er erst wieder seit Mitte Herbst. Sein Herz bildet die 1841 eröffnete Potemkinschen Treppe. Über sie wacht die von unten bis oben mit Sandsäcken zugedeckte Statue des Herzogs von Richelieu, des ersten Bürgermeisters von Odessa.

Die Stufen der Treppe, die bis heute hinter Stacheldraht und Betonklötzen liegen, führen zum Schiffspassagier-Terminal hinunter. Letzteres liegt heute ebenso verwaist da wie die über hundert Meter in den Himmel ragende Ruine, die ihr Ende markiert. Ende Sommer wurde das Hotel Odessa im Rahmen des bis dahin massivsten Angriffs auf die Schwarzmeer-Metropole komplett zerstört.

Bild der Verwüstung

Vom oberen Ende der Potemkinschen Treppe lässt sich das weithin sichtbarste Sinnbild der Verwüstungsschneise, die Russland seit dem 24. Februar 2022 hier gezogen hat und zieht, ganzheitlich überblicken; und genau hier und nirgendwo anders wollten die in der Stadt ausharrenden Odessiter Juden, die mehrheitlich der chassidischen Chabad-Bewegung angehören, ein Zeichen setzen: Bis zum letzten Tag des Lichterfestes Mitte Dezember stellten sie das zentrale Element der damit einhergehenden Feiern – den neunarmigen Leuchter – direkt neben der Richelieu-Statue auf. Der Sukkus der Reaktionen ihrer nichtjüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in den lokalen sozialen Medien, in einer Frage: "Hey, Ruschisten: Wer sind hier die Nazis? Ihr oder wir?"

Was sich seit dem Heiligen Abend in Odessa abspielt, lässt sich so gesehen auch als verzögerte Antwort des Kreml lesen. Waren die meisten Drohnen und Raketen in den Wochen davor nicht in der Stadt, sondern in ihrem Hinterland eingeschlagen, steht sie seitdem wieder fast täglich direkt unter Beschuss. Allein diese Woche ermordeten die Russen bisher sechs Odessiter. Dutzende wurden bei den Angriffen verwundet, darunter Kinder. Nicht nur deshalb stellt die Stadt heute in vielerlei Hinsicht eine Allegorie des Abwehrkampfes dar, den die Ukraine führt. Wer in den letzten Tagen des sterbenden Jahres 2023 durch ihre Straßen wandert, kommt im Gegensatz zum Jahr davor nirgendwo mehr an den Spuren vorbei, die Russlands neoimperialer Wahn geschlagen hat und schlägt.

Ein Bewohner eines zerstörten Hauses sucht nach weiter brauchbaren Gegenständen.
Ein Bewohner eines zerstörten Hauses sucht nach noch brauchbaren Gegenständen.
REUTERS/STRINGER

Von Bombenkratern gesäumte Hauptverkehrsadern, in denen sich das Regenwasser sammelt. Die Schlangen der Inlandsflüchtlinge, die sich in den städtischen Aufnahmezentren um Brot und Winterkleidung anstellen. Mit Brettern vernagelte Fenster von Kunstmuseen, die ihre letzte Ausstellung vor knapp zwei Jahren eröffnet haben. Die aus allen Nähten platzenden Wartezimmer der psychologischen Betreuungsstelle, die erst im Frühjahr eröffnet wurde und deren Mitarbeiter schon jetzt völlig überlastet sind. Universitätshörsäle und Schulklassenzimmer, die mangels Wärmeversorgung für Studierende und Lehrende geschlossen bleiben. In Trümmern liegende Getreideterminals, Segelklubs und Yachthäfen, über denen der Geruch von frisch Verbranntem wabert; und dazwischen die mittlerweile gefühlt allgegenwärtigen Leuchtreklamen, auf denen das ukrainische Militär mit zunehmend drastischeren Bildern für den Dienst an der Waffe wirbt.

Jede Nacht Sirenenalarm

Die heute geschätzt rund 700.000 Menschen, die hier geblieben sind oder zurückkamen – vor dem Krieg zählte Odessa knapp über eine Million Einwohner –, leben ihre Leben im Schatten der ständigen Bedrohung. Seit nunmehr fast zwei Jahren vergeht praktisch kein Tag und keine Nacht, an dem nicht mindestens einmal die Sirenen heulen, die vor einem drohenden Luftangriff warnen. Der Betrieb im Hafen, einst einer der größten Arbeitgeber, läuft auf Sparflamme. Die Lasten, die er einst bewältigte, haben zum Großteil die an der Grenze zur Moldau und Rumänien liegenden Donauhäfen übernommen. Der Tourismus, die andere Haupteinnahmequelle der Stadt, ist komplett zusammengebrochen. Der Flughafen, von dem einst täglich bis zu fünf Flieger Richtung Istanbul abhoben, liegt heute ebenso verwaist da wie die Hotelbars, Jugendherbergen, Auskunftsbüros und Souvenirläden. Dem nicht genug, vergeht kaum ein Monat, in dem nicht mindestens ein Möchtegern-Saboteur oder ein Spion des Kremls verhaftet wird.

Auf der Habenseite steht, dass Odessa bisher allen Attacken standgehalten hat. Sich der Tatsache bewusst, dass die Stadt in der russischen Imagination eine überproportional große Rolle einnimmt, baute sie die ukrainische Militärführung in den ersten Kriegsmonaten zur Festung aus. Das Ergebnis der Arbeit jener Tage und Stunden unmittelbar nach Beginn der Invasion, in denen sie ihre Bürgerinnen und Bürger zwang, zu Hause zu bleiben, sind heute bei näherem Hinschauen ebenso sichtbar wie die Verheerungen: gut ausgebaute Flugabwehrstellungen und Strandbefestigungen, Trainingsschießplätze, eine strategisch verminte Küste, eine erstaunlich professionelle Miliz.

Polizisten vor einem von Raketen getroffenen Gebäude in Odessa, 29. Dezember 2023.
Polizisten vor einem von Raketen getroffenen Gebäude in Odessa, 29. Dezember 2023.
AFP/OLEKSANDR GIMANOV

Nicht offiziell bestätigten Berichten zufolge soll vor kurzem auch eine US-amerikanische Patriot-Flugabwehrbatterie in der Region stationiert worden sein. Nämliche soll Russlands Kampfbomber dauerhaft auf Abstand halten. Eine Rückkehr der Schlachtschiffe der Schwarzmeerflotte, deren Umrisse in den Wochen nach Beginn der Invasion teils mit freiem Auge am Horizont sichtbar waren, scheint angesichts all dessen nahezu ausgeschlossen. Nahezu, aber eben nicht ganz.

In einer vorweihnachtlichen Fernseh-Propagandashow, in deren Rahmen Russlands Diktator Wladimir Putin Fragen seiner Untertanen beantwortete, bekräftigte der 71-Jährige einmal mehr die Einnahme von Odessa als Kriegsziel: "Sie ist eine russische Stadt. Jeder weiß das." Eine angesichts von Odessas langer Geschichte gewagte Behauptung. Die Siedlung, aus der es hervorging, wurde erstmals 1415 urkundlich erwähnt. Bis sie Teil der "Russischen Welt" wurde, dauerte es knapp vier Jahrhunderte.

Erst die Sowjetunion, die der Diktatur des ehemaligen KGB-Agenten in puncto Grausamkeit kaum nachstand, machte ihrem bis dahin dominanten kosmopolitischen Charakter endgültig den Garaus. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung stellten Juden konstant ein Drittel der Bevölkerung von Odessa. Heute leben hier nur noch geschätzt 30.000. Denkt man Putins Argument entsprechend zu Ende, sind ihm das offenbar immer noch 30.000 zu viele. (Klaus Stimeder aus Odessa, 30.12.2023)