Spektakuläre Klettereien machen den Salbitschijen über die Schweiz hinaus bekannt. Lukas Hinterberger und Michi Wohlleben gaben ihn sich im Winter.
Alpsolut Pictures

Nach 33 Stunden Kletterei im verschneiten Granit der Urner Alpen, nach zwei Besteigungen des 2.985 Meter hohen Salbitschijen und nach zwei Abstiegen von ebendiesem, nach zwei Dritteln einer Tour, die im Winter noch niemand geschafft hat, da sagt Lukas Hinterberger: "Ich trau mich nicht, da vorauszugehen."

Wäre Hinterberger allein, wäre die Tour hier und jetzt zu Ende. Der Schweizer Bergführer sinkt bis zur Hüfte im Schnee ein. "Unten bodenlos, oben klatschnass. Ich hatte das Bild vor Augen, dass sich der Hang löst und mich die schweren Schneemassen begraben", wird er später für die Doku "Triple Edge" in eine Kamera sagen. Aber da ist noch Michi Wohlleben, ebenso Alpinist und Bergführer, ebenso seit 33 Stunden unterwegs. "Mir war es das in diesem Moment einfach wert. Ich hatte die Energie zu gehen", wird er später in dieselbe Kamera sagen. Wohlleben befestigt einen Standplatz, seilt sich an und wagt sich mit Schneeschuhen über die Schneefläche. "Wenn da etwas passiert wäre – mir wäre es scheiße gegangen, aber Lukas wäre wahrscheinlich nicht viel passiert."

Purer Alpinismus

Die Zweierseilschaft ist vielleicht die purste, spannendste Form des Alpinismus. Der archaischen Einsamkeit einer Solobesteigung mag Magie innewohnen, doch im Duett passiert noch viel mehr: Mensch gegen Berg, Mensch gegen Seilpartner, Mensch mit Seilpartner, Seilpartner gemeinsam gegen Berg. "Es gibt bessere Kletterer als ihn und mich, aber zusammen ergeben wir zweieinhalb", sagt Wohlleben über Hinterberger.

Der Bayer und der Schweizer könnten keine Brüder sein. Wohlleben ist der Prototyp des spitzbübischen Schmähführers, mit heller Stimme und unschuldigem Gesicht könnte er jede Versicherung verkaufen; Hinterberger ist ein ruhiger Bergmensch mit Brummstimme, die eher kurze Botschaften sendet. Und doch: Sitzt man ihnen gegenüber, fühlen sie sich an wie ein aufgelegtes Team. Die Liebe zum Berg und zur Herausforderung verbindet mehr als jede Oberflächlichkeit. "Wenn du mit einem Freund etwas machen kannst, kriegst du viel mehr PS auf die Straße", sagt Wohlleben.

ADVENTURE BUDDIES: Michi Wohlleben & Lukas Hinterberger
European Outdoor Film Tour

Für manche Projekte braucht man jedes PS. Vergangenen Februar wagten Wohlleben und Hinterberger die sogenannte Salbit-Trilogie zum zweiten Mal im Winter. Im Sommer ist das direkt aufeinanderfolgende Klettern der West-, Süd- und Ostgrate des Sabitschijen ein Klassiker, im Winter war die Trilogie unbezwungen.

Nächtliches Tasten

Das Duo startet um 1.10 Uhr mit dem Südgrat, nur die Stirnlampe hilft bei der Suche nach Griffen. Der Salbit hat etwas von einem riesigen Bergkristall; ein felsiges Ungetüm voller Zacken und Spalten, im Winter auf weniger steilen Stellen mit Schnee bedeckt.

Nach fünfeinhalb Stunden stehen Wohlleben und Hinterberger zum ersten Mal auf dem Gipfel. Der erste Abstieg erfolgt schon bei Tageslicht, dann geht es zum Westgrat. Er ist der schwierigste Grat der Trilogie: mühsam zu kletternde Spalten mit vereisten Passagen und vier steile Felstürme, die auf dem Weg zum Gipfel zu überklettern sind. "Ich vergleiche das mit Crossfit: schwere Rucksäcke, durch den Schnee stapfen, dann möglichst schnell über die Kletterstellen drüberwürgen. Das war für den ganzen Körper sehr belastend", sagt Hinterberger dem STANDARD.

Nach 18 Kletterstunden und 40 Seillängen wird es dunkel, das Duo biwakiert am Westgrat. Warme Schlafsäcke wiegen mehr, sind bei einer derartigen Tour also keine Option. Es wird eine kalte und kurze Nacht. "Das Biwak ist kein Fünfsternehotel", sagt Hinterberger in "Triple Edge", die Dokumentation ist derzeit im Rahmen der European Outdoor Film Tour zu sehen. Noch im Dunkeln klettern die Seilpartner weiter, zu Mittag stehen sie wieder auf dem Gipfel.

Bergfexe unter sich: Lukas Hinterberger (links) und Michael Wohlleben.
Michael Wohlleben

Auf dem Weg zum Ostgrat muss das Duo einen verschneiten Hang queren. Für Bergunerfahrene sieht die Stelle im Vergleich zu den exponierten Felsklettereien wie ein Spaziergang aus, doch Hinterberger hat ein Gespür: "Du kannst über Schnee laufen, bei dem du haargenau spürst: Das ist safe. Und es gibt Schnee, da spürst du: Das passt nicht, da ist der Wurm drin."

Hinterberger hatte kurz zuvor eine "schlechte Erfahrung" mit einer Lawine gemacht. "Das war Öl ins Feuer. Ich hatte ein lähmendes Gefühl, wo du nicht mehr so rational denken kannst." Es ist die grausamste Wahrheit des Alpinismus: Am Berg sterben Menschen. Im Winter, im Sommer, egal wann, wenn wirklich etwas passiert, ist oft ein Leben vorbei. Das weiß kaum jemand besser als ein erfahrener Bergführer wie Hinterberger oder Wohlleben.

Limit der Vertretbarkeit

Wie also entscheiden, was man riskieren kann? "Es ist viel Bauchgefühl. Ich hätte den Hang lawinentechnisch nicht beurteilen können und wollen", sagt Wohlleben. "Deswegen habe ich gesagt, ich gehe und schaue, wie es sich anfühlt. Wenn ich dann Todesangst habe, dann ist das Projekt scheißegal." Die Todesangst kommt nicht, der Schnee hält. "Meine Taktik ist: Pro Jahr, pro Leben sollte man nicht so oft in solche Situationen kommen. Es ist am Limit der Vertretbarkeit. Aber in so einem Umfeld bewegen wir uns bei solchen Projekten – wenn du das nicht irgendwie ab und zu machen kannst, kannst du den Sport nicht machen", sagt Wohlleben.

Hinterberger fühlt sich weiterhin nicht wohl, doch auch er geht nun weiter. "Ich dachte einfach, das hält nicht. Am nächsten Tag haben wir gesehen, dass eine riesig fette Gleitschneelawine niedergegangen ist. An der Stelle war es steiler und etwas südseitiger, aber da war schon was da." Wohlleben hatte eine solche Situation zwei Jahre zuvor von der anderen Seite erlebt, am Ruchen überzeugten ihn Hinterberger und ein weiterer Seilpartner zum Weitergehen. "Wenn ich einen Partner habe, dem ich zu hundert Prozent vertrauen kann, und wir schätzen gegenseitig unsere Fähigkeiten, dann kann ich so weit gehen, zu sagen: Ich lasse ihn entscheiden und gebe ihm mein Leben in die Hand", sagt Wohlleben.

Eine vertikale Angelegenheit.
Michael Wohlleben

Das gehe freilich nur, weil die Einschätzungen und Prioritäten des Duos ähnlich sind. "Die Risikogrundbereitschaft kann ähnlich sein, aber wenn der Ehrgeiz sehr unterschiedlich ist, dann wird es gefährlich", sagt Wohlleben. "Wir würden nie aus Ehrgeiz ein Projekt bei Scheißbedingungen machen. Wir würden sagen: Gehen wir Kaffee trinken und kommen in zwei Wochen wieder. Wir machen das für uns. Und wenn ich merke: Er will nicht, er kann nicht – das will ich ihm zumuten?", sagt Wohlleben, und Hinterberger wirft ein: "Auf den Punkt. Umgekehrt dasselbe." Wohlleben: "Ich weiß genau, wo das hinführt, ich hatte diese Situationen. Das ist nicht im Sinne des Alpinismus. Berge stehen ewig."

Zuspruch ist alles

Auch der Salbitschijen steht noch, und nach überstandenem Lawinenhang kann das Alpinistenduo auch den Ostgrat in Angriff nehmen. "Meine Nerven sind jetzt durch", ruft Wohlleben seinem nachkommenden Seilpartner am Einstieg zu. Nun geht wieder das ewige Spiel des gegenseitigen Motivierens los: Wer vorsteigt und damit den schwierigeren und gefährlicheren Part übernimmt, wird vom nachkommenden Kollegen angefeuert. "O Michelangelo", tönt es da in Schwyzerdütsch nach oben. Ganz kurz vor dem Gipfel, es ist längst wieder stockdunkel, hat Hinterberger noch einen Hänger. Bei Energieriegel und Heißgetränk baut Wohlleben seinen Partner auf, der revanchiert sich: "Danke, dass du so gut schaust auf mich."

Wenig später stehen die zwei auf dem Gipfel, nach 41 Stunden Kletterei verewigen sie die erste Salbit-Wintertrilogie im Gipfelbuch. "Am Ende entscheidet der Kopf, ob du es schaffst", sagt Wohlleben dem STANDARD mit einigen Monaten Abstand. Und im richtigen Moment wohl auch ein bisschen der Bauch. (Martin Schauhuber, 3.1.2024)