Verwandte von Saleh al-Arouri hängen Hamas-Flaggen in der Stadt Aroura nördlich von Ramallah auf.
Verwandte von Saleh al-Arouri hängen in der Stadt Aroura nördlich von Ramallah Hamas-Flaggen auf.
AFP/JAAFAR ASHTIYEH

Die Bewohner im Norden Israels hatten in der Nacht auf Mittwoch jeden Grund, schlecht zu schlafen: Nach der gezielten Tötung des Terrorführers Saleh al-Arouri in Beirut fürchtete Israel Racheakte der Hisbollah-Milizen im Libanon. Zwar ist al-Arouri kein Hisbollah-Mann, sondern einer der mächtigsten Hamas-Leute – er galt als Nummer zwei hinter dem politischen Führer der Hamas, Ismail Haniyeh, und als dessen potenzieller Nachfolger. Al-Arouri genoss aber den Schutz der proiranischen Miliz, und der Ort, an dem der Drohnenangriff stattgefunden hatte, war ein von der Hisbollah kontrolliertes Quartier in Beirut.

Die libanesische Zeitung Al-Akhbar, für ihre Nähe zur Hisbollah bekannt, titelte: "Israel hat eine rote Linie überschritten.“ Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hatte in der Vergangenheit angekündigt, dass jede gezielte Tötung im Libanon "zu einer scharfen Reaktion" führen würde.

Video: Wichtiger Militärstratege der Hamas in Beirut getötet.
AFP

Anschlag bei Soleimani-Gedenken

Israel hat sich bisher nicht verantwortlich für den Tod Al-Arouris erklärt. Armeesprecher Daniel Hagari wählte seine Worte aber mit besonderer Sorgfalt, als er Dienstagabend verkündete, Israel sei nun "auf alle Szenarien" vorbereitet. "Die israelische Armee ist auf einem sehr hohen Bereitschaftslevel, an allen Fronten, in der Abwehr und in der Offensive", sagte Hagari. "Am wichtigsten ist heute: Wir sind und bleiben darauf fokussiert, die Hamas zu bekämpfen."

Man kann das als Botschaft an Nasrallah verstehen: Hier geht es nicht um die Hisbollah, hier geht es nicht um den Libanon – sondern um die Palästinenser und die Hamas. Das lässt sich aber nicht sauber voneinander trennen. Al-Arouri galt als Bindeglied zwischen Hamas und Hisbollah. Seine Tötung fiel ausgerechnet auf den Abend vor dem vierten Jahrestag der gezielten Tötung eines hochrangigen iranischen Terrorkommandanten, Ghassem Soleimani. Bei einer Gedenkveranstaltung nahe Soleimanis Grab im Iran wurden bei Explosionen am Mittwoch über 100 Menschen getötet.

Ein Video-Still aus Kerman zeigt Rettungskräfte nach der Explosion.
AFP/IRAN PRESS/-

Die beiden Explosionen erschütterten die südliche Stadt Kerman, in der sich das Grab befindet, im Abstand weniger Minuten, wie das iranische Fernsehen berichtete. Laut der halbstaatlichen Nachrichtenagentur Nournews explodierten "auf der Straße zum Friedhof mehrere Gaskanister". Kermans Vizegouverneur sprach von einer Terrorattacke, wie der staatliche Rundfunk Irib berichtete. Der genaue Grund für die Explosion war zunächst unklar. Von systemtreuen Regierungsanhängern wird Soleimani als Märtyrer verehrt.

Abbruch der Gespräche zu Geiseln

Im Luftraum über Israels Norden blieb es in der Nacht auf Mittwoch und in den Morgenstunden still. Terrorexperte Michael Milstein hält es für möglich, dass die Antwort auf die Tötung von Al-Arouri nicht in einem Beschuss ziviler Ziele in Israel liegen könnte, sondern in einer Eskalation im Westjordanland. Auf diese Weise könnte man Rache üben, ohne zu riskieren, dass die höchst angespannte Lage an der libanesischen Grenze in einen offenen Krieg ausartet. Zudem war es al-Arouri, der in Israel als federführend für die Terrorwelle im Westjordanland gesehen wurde.

In Israel hält man al-Arouri für jenen Faktor, der in den Verhandlungen rund um einen neuen Geiseldeal mit der Hamas unrealistische Forderungen stellte und bisher einen neuerlichen Kompromiss verhinderte. Wer jedoch hoffte, al-Arouris Tod könnte einen Durchbruch in den Verhandlungen bringen, wurde umgehend enttäuscht: Die Hamas verkündete nach dem Bekanntwerden des Tods al-Arouris einen sofortigen Abbruch der Gespräche.

Für die Angehörigen der rund 130 immer noch in Gaza festgehaltenen Geiseln ist das ein besonders schwerer Schlag – hatte es doch kurz zuvor Meldungen über einen Verhandlungsfortschritt bei den langen, zähen Gesprächen gegeben. Laut arabischen Nachrichtenagenturen und einem israelischen Bericht hat die Hamas ihre Forderung nach einer unbegrenzten Waffenruhe fallen gelassen. Stattdessen verlangte die Terrorgruppe die Freilassung von 120 Gefangenen, die in israelischen Haftanstalten einsitzen. Im Gegenzug würden 40 der rund 130 Geiseln freigelassen. Dazu kommt es nach dem Abbruch der Gespräche seitens der Hamas nun nicht. In Israel wiederum sind alle diplomatischen Bemühungen darauf ausgerichtet, eine Eskalation im Norden zu vermeiden.

Kritik an Ministern

Terrorgruppen aus Gaza hatten bei ihrem Überfall auf Israel am 7. Oktober mehr als 240 Menschen nach Gaza verschleppt und rund 1200 Menschen ermordet, die meisten von ihnen Zivilisten. Immer noch sollen sich 129 Geiseln in der Gewalt der Terrorgruppen befinden, darunter auch ein Österreicher. Mit jedem Tag steigt die Verzweiflung der Angehörigen. Sie werfen der Regierung vor, das Schicksal der Geiseln der Vernichtung der Hamas unterzuordnen.

Während Israels offizielle Propaganda versucht, das Leiden der Zivilisten in Gaza aus der Wahrnehmung auszuklammern, können die Angehörigen der Geiseln nicht anders, als sich auch um diesen Aspekt des Kriegs zu kümmern: Hunger, Infektionskrankheiten und der ständige Beschuss treffen auch die nach Gaza Verschleppten.

Für diplomatische Differenzen sorgen jüngste Äußerungen zweier hochrangiger Minister der Regierung Netanjahu: Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotritsch regten eine großflächige ethnische Säuberung Gazas und die Ansiedlung von Israelis im Gazastreifen an. Das sei „eine korrekte, gerechte, moralische und humane Lösung", meinte Ben-Gvir. Die USA verurteilten diese Aussagen. US-Außenamtssprecher Matthew Miller bekräftigte die "klare, konsequente und unmissverständliche" Position der USA, wonach "Gaza palästinensisches Land ist und palästinensisches Land bleiben wird". (Maria Sterkl aus Jerusalem, 3.1.2024)