Claudine Gay bei ihrer Anhörung vor dem Kongress am 5. Dezember.
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Am Ende war der Rücktritt nur noch eine Frage der Zeit. Immer neue Vorwürfe, offene Kritik von Kollegen und der Boykott bedeutender Geldgeber hatten den Wechsel an der Spitze der renommierten Harvard-Universität unausweichlich gemacht. Am zweiten Tag des neuen Jahres zog Claudine Gay, die Präsidentin der Elite-Hochschule, die Konsequenz: "Mit schwerem Herzen", so schrieb die 53-jährige Afroamerikanerin in einer zweiseitigen Erklärung, räume sie den prestigeträchtigen Posten.

Damit geht ein Drama zu Ende, das für die Öffentlichkeit mit verstörenden antisemitischen Vorfällen auf dem Campus nach der Hamas-Attacke auf Israel vom 7. Oktober begann, bei genauerem Hinsehen aber deutlich mehr Ebenen hat. Gay selbst sieht sich als Opfer "rassistischer Feindseligkeiten". Tatsächlich feierte der ultrarechte Talkshow-Moderator Josh Hammer den "großen Skalp" im "Kampf für die Reinheit der Zivilisation".

Auch gab es zuletzt eine regelrechte Kampagne von Trump-Republikanern gegen die Präsidentin. Ihre Äußerungen zum Antisemitismus hatten aber auch massive Kritik liberaler Beobachter hervorgerufen, und jüngste Enthüllungen nähren ernste Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Qualifikation. Die Rolle reicher Geldgeber im Hintergrund berührt zudem die sensible Frage der Meinungsfreiheit an Amerikas Top-Universitäten.

Folgenschwere Aussage im Kongress

Massiv in die Kritik geriet Gay durch ihren missglückten Auftritt bei einer Anhörung im Kongress am 5. Dezember. Zuvor hatte es antisemitische Proteste in Harvard gegeben, die Gay nach Meinung ihrer Kritiker unzureichend verurteilt hatte. Die republikanische Abgeordnete Elise Stefanik, die gegen den linken "Wokeismus" an Hochschulen kämpft und sich Hoffnungen auf das Vizepräsidentin-Amt in einer möglichen Trump-Regierung macht, stellte dort die Frage, ob der Aufruf zum Völkermord an Juden "gegen die geltenden Richtlinien" der Universität zu Mobbing und Belästigung verstoße. "Das kann sein, abhängig vom Kontext", antwortete Gay.

Diese Erwiderung verstärkte den Eindruck, dass die Tochter haitianischer Einwanderer keine klare Haltung gegen Antisemitismus einnehme. Rund 1600 ehemalige Harvard-Studenten protestierten und kündigten an, ihre finanzielle Unterstützung der Alma Mater zurückzuhalten. Der Hedgefonds-Milliardär Bill Ackman, der seiner Hochschule viele Millionen gespendet hatte, startete eine Kampagne zum Sturz der Präsidentin.

Kurz zuvor schon waren zudem – zunächst von ultrarechten Aktivisten – Plagiatsvorwürfe gegen Gay erhoben worden, deren wissenschaftliche Veröffentlichungsliste mit lediglich elf Zeitschriftenartikeln und keinem einzigen Buch bemerkenswert kurz ist. Angeblich waren in der Dissertation und in drei dieser Artikel Formulierungen anderer Wissenschafter verwendet worden, die nicht als Zitat gekennzeichnet waren.

Mit zweierlei Maß gemessen?

Als sich die Vorwürfe vor dem Jahreswechsel mehrten, meldete sich der renommierte Linguist John McWhorter in der "New York Times" zu Wort: Studenten würden für jeden einzelnen solchen Fehler zur Rechenschaft gezogen, argumentierte er. Sie müssten das Gefühl doppelter Standards haben. Zudem warnte er vor dem Eindruck, dass es einen wissenschaftlichen Bonus für Afroamerikaner gebe. "Warum Claudine Gay gehen sollte", überschrieb er seine Kolumne.

Das hat die Harvard-Präsidentin nun getan. In ihrer Erklärung zeigt sie sich "erschüttert, dass Zweifel an meinem Engagement aufgekommen sind, Hass entgegenzutreten und wissenschaftliche Sorgfalt aufrechtzuerhalten". Die rechte Abgeordnete Stefanik triumphierte derweil bei X (ehemals Twitter): Dies sei erst der Anfang ihrer Aufdeckung "der Verrottung unserer höchst angesehenen Bildungseinrichtungen". Ihr Versprechen klingt wie eine Drohung. (Karl Doemens aus Washington, 3.1.2024)