Sein Herz schlägt ruhig und zur vollsten Zufriedenheit seiner Ärzte. Das gab der medizinische Stab des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu erst vor einigen Tagen öffentlich bekannt. Immerhin das wissen die Israelis jetzt also von jenem Politiker, der sie durch die schlimmste Krise des Landes führen soll. Ansonsten lässt "Bibi" – so wird Benjamin Netanjahu von Freunden herzlich und von Feinden verächtlich genannt – die Menschen im Finstern tappen darüber, was in ihm vorgeht.

Benjamin Netanjahu
Die aktuelle, sechste Amtszeit von Benjamin Netanjahu als israelischem Regierungschef steuert auf ein unrühmliches Ende zu.
AFP/POOL/MENAHEM KAHANA

Was soll mit Gaza werden, wenn der Krieg vorbei ist – und wenn nicht die Palästinenser dort regieren sollen: wer dann? Bibi schweigt. Wann wird es für die Bewohner der Kibbuzim im Süden sicher genug sein, in ihre Häuser zurückzukehren? Bibi schweigt. Werden die Dörfer und Städte nahe der Grenze zum Libanon je wieder bewohnbar sein? Kein Kommentar.

Der Mann, der Israel länger regiert hat als jeder andere Politiker vor ihm. Er hat Wichtigeres zu tun. Abseits des großen Krieges gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas kämpft er seinen eigenen, kleineren. Jenen ums politische Überleben an der Macht, mit klarem Ziel: alles, nur nicht untergehen. Doch Netanjahus Tage sind gezählt. Sein Drama in drei Akten.

1. Was wurde aus "Mister Security"?

Fragt man die Israelis heute, wer denn das Land regieren soll, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist – wann auch immer das sein möge –, dann sagen nur 15 Prozent: Benjamin Netanjahu. Die übergroße Mehrheit der Menschen in Israel gibt dem rechtskonservativen Regierungschef die Verantwortung für das Versagen von Geheimdienst und Militär im Vorfeld des Hamas-Überfalls am 7. Oktober 2023 – das sagt Gayil Talshir, Politikwissenschafterin an der Hebräischen Universität in Jerusalem, im Gespräch mit dem STANDARD. "Klar, es gab Probleme beim Geheimdienst, bei der Ausforschung – aber es ist mehr als klar, dass Netanjahu erst den Rahmen für dieses Versagen geschaffen hat", analysiert Talshir.

Als Chef einer ultrarechten Regierung hat Netanjahu alle Warnungen vor einem drohenden Angriff palästinensischer Extremisten in den Wind geschlagen – und das über mehrere Monate hinweg. Bereits im März 2023 hatte Verteidigungsminister Joav Gallant vor einer Eskalation gewarnt – doch Netanjahu reagierte darauf, indem er ihn feuerte. Einige Monate später, im Juli 2023, begaben sich mehrere israelische Generäle sogar persönlich ins Parlament, um die Abgeordneten noch vor der dort geplanten Abstimmung über den ersten Teil der Justizreform über aktuelle Sicherheitsbedrohungen zu briefen – doch Netanjahu verhinderte dies.

"Zwei Wochen vor dem 7. Oktober hatte ich ein Gespräch mit Gadi Eisenkot (vormals Armeechef, heute Minister im Kriegskabinett, Anm.)", erzählt die Politologin Talshir. "Er war stinksauer. Er sagte mir: ‚Ich war gerade bei Benjamin Netanjahu und warnte ihn, dass wir in einer extrem gefährlichen Lage sind und in einen Krieg hineingezogen werden könnten." Doch Bibi sagte nur: 'Ich will das alles jetzt nicht hören.'"

Alles, was nichts mit der von der Regierung geplanten Entmachtung der Justiz zu tun hatte, wurde verdrängt. Netanjahu, der Wahl um Wahl mit seinem Image als "Mister Security" geschlagen und immer wieder auch gewonnen hatte, erklärte die Sicherheit des Staates nun zur Nebensache. Hauptsache, seine Koalition blieb am Leben und er selbst an der Macht. Denn eines war schon vor einem Jahr klar: Die am weitesten rechts stehende Regierung, die das Land je hatte, war Netanjahus letzte Chance, als Regierungschef politisch zu überleben.

Demo gegen die israelische Justizreform
Für hunderttausende Israelis war und ist Israels Demokratie durch die Justizreform in Gefahr. Gegen diese gingen sie monatelang auf die Straße.
AFP/MENAHEM KAHANA

Doch es war eine Chance, die er von Anfang an verspielte: Mit der Hetze gegen Justiz und Rechtsstaat trieb Netanjahus Koalition einen tiefen Spalt in Israels Gesellschaft. Israels islamistische Feinde rieben sich die Hände angesichts des Schauspiels an Selbstzerfleischung, das das Land ihnen monatelang darbot. Ende Juli, zwei Monate vor dem verheerenden Überfall der Hamas, erklärten 67 Prozent der Israelis, ihre größte Sorge sei nicht die Furcht vor den Terrorgruppen – sondern die Angst vor einem Bürgerkrieg.

Es waren jene Feinde, die Netanjahu selbst mit aufgebaut hatte. "Die Hamas über Katar zu finanzieren war seine Idee, niemand zwang ihn dazu", sagt Talshir. In seinem Bestreben, die Palästinenserbehörde in Ramallah zu schwächen, machte er die Terroristen in Gaza stark. Rund 15 Millionen Dollar (13,7 Millionen Euro) Bargeld wurden monatlich über israelisches Territorium nach Gaza gekarrt. Das gigantische Tunnelnetzwerk der Hamas zeigt, wohin das Geld tatsächlich floss.

Derselbe Netanjahu, der glaubte, man könne Terroristen mit Cash zähmen, führt nun das Land durch den Krieg gegen ebendiese Terrorgruppen. Es ist kaum verwunderlich, dass man ihm nicht mehr traut.

2. Exodus aus der Partei

Netanjahus Likud – 1973 als Bündnis gegründet und 1988 zur Partei umgebaut – hat mit der Partei, die er im Jahr 2005 von Ariel Sharon übernommen hat, nicht mehr viel gemeinsam. Fast alle moderaten Kräfte sind längst abgewandert und haben neue Listen gegründet oder sich diesen angeschlossen. Es gibt kein Parteiprogramm, niemand kennt die zentralen Forderungen des Likud – denn alles ist auf Netanjahu zugeschnitten. Jetzt, wo Bibi angeschlagen ist, denken viele seiner Anhänger darüber nach, ans Ufer zu schwimmen, bevor das Boot sinkt.

Und Netanjahu macht, was er immer tat: Er lockt mit Zuckerbrot und droht mit der Peitsche, um das Team beisammen zu halten. Er verteilt neue Jobs zur Freundschaftspflege, und Kritiker befördert er als Diplomaten in möglichst weite Ferne.

3. Isolation im Ausland

Längst ist Netanjahu aber auch international isoliert. US-Präsident Joe Biden macht aus seiner Hoffnung auf ein baldiges Ende der Bibi-Ära keinen Hehl. Netanjahu hofft nun, seine Amtszeit noch bis zu den US-Wahlen im November 2024 ausdehnen zu können – in der Hoffnung, dass Biden vom Republikaner Donald Trump abgelöst wird. Mit Trump verbindet Netanjahu nicht nur die Angst vor einer strafgerichtlichen Verurteilung, sondern auch die Ansicht, dass das palästinensische Streben nach Selbstbestimmung ein Störfaktor ist, den es zu beseitigen gilt.

Zuletzt hatte aber auch das zuvor enge Verhältnis zwischen Bibi und Trump Kratzer abbekommen. Dass Netanjahu kurz vor der Verlautbarung der Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten einen Rückzieher machen wollte, nahm ihm Trump, der dringend einen außenpolitischen Erfolg brauchte, dann doch übel. Netanjahu konnte zwar umgestimmt werden, der Pakt wurde besiegelt, Trumps Missmut hielt aber an.

Als Netanjahu nach Bidens Wahlsieg dann nur Stunden – nicht Tage – abwartete, um dem frisch gewählten US-Präsidenten zu gratulieren, war Trump stinksauer. Über den israelischen Journalisten Barak Ravid ließ er seinem vormals "good friend" Bibi eine unmissverständliche Botschaft übermitteln, die aus zwei Wörtern bestand: "Fuck him." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 6.1.2024)